Kommentar: Götterdämmerung bei den Sozialdemokraten
BERLIN. - Noch immer, knapp eine Woche danach, wirkt der Paukenschlag vom letzten Dienstag sowohl im Willy-Brandt-Haus als auch in der Bundespolitik und im Konrad-Adenauer-Haus nach. Der bisherige SPD-Bundesvorsitzende und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat urplötzlich beide Ämter zur Verfügung gestellt und wirkt bereits als neuer Bundesaußenminister.
Bundesvorsitzender der Sozialdemokraten und Herausforderer von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei der im September stattfindenden Bundestagswahl wird nun der bisherige Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz.
Sigmar Gabriel hat nach überlangem Zögern und lauter Kritik aus den eigenen Reihen, nicht zuletzt auch nach Rücktrittsforderungen der Odenwälder Jusos, die Notbremse gezogen und die Partei und die Nation von einem ewigen Zauderer und Umfaller befreit. In der SPD hat er damit eine Aufbruchsstimmung produziert, die sich auch in über 700 Parteieintritten innerhalb von fünf Tagen manifestiert.
Es ging auch nicht mehr weiter mit Gabriel, der mit seinem Schmusekurs gegenüber der CDU-Kanzlerin und inkonsequenter Politik in vielen Politikbereichen, die ihm die Bezeichnung „Umfaller" einbrachte, große Teile der eigenen Partei gegen sich aufbrachte.
Die ehemals arbeitnehmerfreundliche SPD verlor ihre Stammklientel durch unbeteiligtes Zusehen bei Zunahme von prekären Arbeitsverhältnissen, beim Wegsehen bei Werksverträgen und Leiharbeit, bei missbräuchlicher Anwendung des eigentlichen Mindestlohns, durch Zustimmung bei Maut, CETA, Betreuungsgeld, Vorratsdatenspeicherung, Tarifeinheitsgesetz, Ausweitung von Waffenexporten und so weiter und so weiter.
Die SPD sieht zu, wie die späteren Rentner durch den Zwang der Annahme von fast nur noch befristeten Arbeitsverträgen außerstande gesetzt werden, Rentenansprüche zu erlangen. Gerade wird bekannt, dass Millionen Minijobber Löhne weit unterhalb des Mindestlohns erhalten. Und das nach weit mehr drei Jahren SPD-Beteiligung in der Großen Koalition. Nicht zu vergessen: Bundesarbeitsministerin ist die SPD-Politikerin Andrea Nahles.
Mit Martin Schulz wird alles besser?
Gerechtigkeit ist das große Thema von Martin Schulz. In den ersten großen und kleinen Interviews und Talkrunden nach seiner Ernennung und Wahl zum Kanzlerkandidaten scheint er mit dem Thema zu punkten. Er will prekäre Arbeitsverhältnisse bekämpfen, höhere Einkommen erreichen, die bestehende und drohende Arbeitsarmut verhindern.
Das klingt gut in den Ohren der Genossen und der deutschen Arbeitnehmerschaft. Und gern hören die Stimmbürger, dass Schulz es nicht dulden werde, dass ein normaler Bäcker in Deutschland brav seine Steuern zahlen muss, um dem Staat die Aufgaben zu finanzieren, dass große Kaffee-Franchiseunternehmen und multinationale Konzerne dagegen das in Deutschland verdiente Geld fast nicht versteuern müssen und in Steueroasen verschwinden lassen können.
Hört, hört. Martin Schulz will Steueroasen austrocknen und große Konzerne zur Steuerehrlichkeit in Deutschland zwingen. Haben wir da etwas verpasst? War es nicht Martin Schulz, der als EU-Präsident einen Untersuchungsausschuss und Ermittlungen gegen seinen Freund und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker verhindert hat?
Zur Erinnerung: Im Großherzogtum Luxemburg regierte Jean-Claude Juncker als Premierminister und Finanzminister just zu der Zeit, als sich der Zwergstaat nach Ansicht der internationalen Presse zur Steueroase wandelte.
Juncker und Spießgesellen verwandelten Luxemburg in ein Steuerparadies und warben eine Menge multinationale Konzerne, ihre Zentralen in Luxemburger Briefkästen bei Ministeuern zu platzieren und damit andere EU-Staaten massiv zu schädigen.
Im Jahr 2014 bereits hat ein Recherche-Netzwerk von hunderten Fällen berichtet, in denen multinationale Konzerne wie Amazon in dem Zwergstaat auf Kosten anderer EU-Länder Steuerzahlungen vermeiden.
Die Affäre, so berichtete im Jahr 2015 die „Deutsche Welle", setzte den Behördenchef Juncker persönlich unter Druck, weil der Christsoziale dort 18 Jahre lang Premierminister war. Juncker wurde deshalb für die Steuerpraktiken des Großherzogtums mitverantwortlich gemacht. Doch Schulz verhinderte nicht nur den Untersuchungsausschuss im EU-Parlament, sondern sah zu, wie die Journalisten von Juncker mit Strafprozessen überzogen wurden, die den Skandal aufgedeckt hatten.
So werden die Aussagen von Martin Schulz relativiert. Man darf gespannt sein, wie nachhaltig sein Verlangen nach sozialer Gerechtigkeit und Gleichbehandlung wirken wird und ob er seine Forderungen (er darf im Gegensatz zu Sigmar Gabriel noch fordern, denn er war kein Bestandteil der Großen Koalition) definitiv konsequent verfolgen wird. Für die SPD wäre es eine neue Erkenntnis.