Boostern und anschlieĂźend zum Karneval?
Interview mit Amtsarzt Dr. Reinhold Merbs zur aktuellen Corona-LageWETTERAUKREIS / FRIEDBERG. - Zur aktuellen Corona-Lage im Wetteraukreis haben wir ein Interview mit dem Amtsarzt bei der Kreisverwaltung des Wetteraukreises, Dr. Reinhold Merbs, gefĂĽhrt.
Frage: Herr Dr. Merbs, die Infektionszahlen gehen sprunghaft nach oben. Was bedeutet das fĂĽr das Gesundheitsamt?
Dr. Merbs: Sie haben Recht. Ja, die Infektionszahlen gehen bei uns, wie auch bundesweit massiv nach oben. Die Inzidenz hat sich gegenĂĽber vor einem Monat mehr als vervierfacht. Das bedeutet natĂĽrlich auch, dass wir in der Kontaktnachverfolgung viermal so viele Menschen ansprechen mĂĽssen.
Das ist eine hohe, kaum noch zu leistende Menge. Dazu kommen unzählige Quarantäneverfügungen, Rückfragen, die Kontakte mit den Schulen usw..
Das hat jetzt wieder dazu geführt, dass wir das Verfahren vereinfachen mussten und aus den anderen Dienststellen der Kreisverwaltung Personal abziehen, um diese Aufgabe bewältigen zu können.
Frage: …das macht Ihnen Sorge?
Dr. Merbs: Noch viel größere Sorge bereitet mir die derzeitige Belastung unserer Krankenhäuser in der Region. Wir haben derzeit hessenweit annähernd 600 Menschen mit einer Corona-Infektion auf den Normalstationen.
Das sind also Menschen, die so schwer erkrankt sind, dass eine häusliche Versorgung nicht mehr geht, weil sie beispielsweise Sauerstoff benötigen. Hinzu kommen noch rund 210 Menschen in Hessen, die darüber hinaus intensivmedizinisch versorgt werden müssen.
Diese Zahlen steigen die letzten Wochen auch kontinuierlich, der Inzidenz folgend an. Darunter leidet der Regelbetrieb und es gibt jetzt schon tagtäglich Versorgungsengpässe für Menschen, die aus anderen Gründen eine Behandlung in der Klinik brauchen. Tendenz steigend.
Frage: Das sind alles Ungeimpfte?
Dr. Merbs: Keineswegs. Etwa die Hälfte der Menschen auf Normalstation ist komplett geimpft, auf Intensivstation circa ein Drittel.
Frage: Spricht das gegen die Wirksamkeit des Impfstoffs?
Dr. Merbs: Nein, ganz und gar nicht. Die Impfung ist wichtig und derzeit die einzige wirkliche Option. Sie verhindert sehr zuverlässig schwere Verlaufsformen das ist gut belegt. Es wird aber immer Einzelfälle geben, die dennoch schwerer krank werden.
Angenommen das trifft einen von 1.000 Geimpften ist das erst mal sehr wenig. Bedeutet aber auch, wenn sich 50.000 Geimpfte infizieren, dann sind das schon weitere 50 zusätzliche Intensivpatienten.
Derzeit holen uns diese Mengeneffekte bedrohlich ein und die Rate der schweren Verläufe ist in diesem fiktiven Model wahrscheinlich zu gering.
Und glauben Sie bitte nicht, dass sogenannte Impfdurchbrüche eine Seltenheit wären. Dafür ist die derzeit kursierende Delta Variante des Virus viel zu ansteckend. Wir sehen eher regelhaft, dass alle familiären Kontakte eines Infizierten, egal ob geimpft oder nicht, sich im Verlauf anstecken.
Frage:: Das Thema Booster-Impfung ist in aller Munde.
Dr. Merbs: Richtig und wichtig. Der Impfschutz nach kompletter Impfung lässt nach circa 6 Monaten nach und kann durch eine dritte Impfung nicht nur aufgefrischt, sondern nach Datenlagen erheblich zusätzlich verbessert werden.
Frage: Wer sollte sich jetzt impfen lassen?
Dr. Merbs: Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt sogenannte Booster-Impfungen ab 70 Jahren, sechs Monate nach der zweiten Impfung. Deshalb haben wir die Menschen in den Altenheimen, die wir im Januar und Februar zuerst geimpft hatten, noch vor Schließung des Impfzentrums Ende September erneut durch unsere ambulanten Impfteams geimpft.
Die Impfkampagne für unsere älteren Mitmenschen lief wegen des anfänglichen Impfstoffmangels in den ersten Monaten im Impfzentrum eher schleppend, derzeit bekommen diese Menschen die Booster-Impfung über die Hausärzte.
Ab Ende April bis Juni haben wir deutlich mehr Menschen im Impfzentrum impfen können, folglich werden jetzt auch mehr Booster Impfungen nachgefragt. Diesbezüglich schaffen wir jetzt zusätzlich eine Struktur zur Unterstützung der Hausärzte, wenn deren Kapazitäten ausgelastet sind.
Frage: Man kann sich auch nach der Drittimpfung infizieren?
Dr. Merbs: Ja, das ist richtig. Solche Fälle haben wir auch schon, bislang immer milde Verläufe.
Frage: Und welche Bedeutung bekommt dann vor diesem Hintergrund die 2G-Regel?
Dr. Merbs: Das halte ich für eine trügerische Sicherheit. 3G war hat gut funktioniert, da hinter dieser „Zugangsregel“ auch immer ein passendes Hygienekonzept in z.B. der Gaststätte stand.
Also Maskenpflicht, wenn die Abstände nicht einzuhalten sind, Abstände durch entsprechende Mengenbegrenzung von Teilnehmern, bessere Raumluftbedingungen. Überraschend wurde dann 2G erfunden und mit einem Mal können Veranstaltungen wieder wie vor der Pandemie stattfinden.
Plötzlich dürfen alle, die geimpft oder genesen sind, sich frei und ohne Maske und ohne Einhaltung von Abständen ins Partygetümmel stürzen. Damit macht man den Ungeimpften zwar eine lange Nase, was wahrscheinlich die Absicht dahinter ist, infektiologisch ist das aber sehr bedenklich.
Es gibt mittlerweile viele 2G Veranstaltungen, die mit entsprechenden Ansteckungen unter Geimpften geendet sind. Bitte auch hier im Hinterkopf behalten:
Der mit Abstand relevanteste Risikofaktor fĂĽr einen schweren Verlauf einer Ansteckung, mit und ohne Impfung, ist das Lebensalter. Schutz vor Ansteckung ist Abstand und nicht begegnen, also daheim bleiben.
Frage: Noch einmal zu den Booster-Impfungen. Wer soll sich jetzt eigentlich boostern lassen?
Dr. Merbs: Zumindest alle Menschen über 70, deren Impfung mindestens ein halbes Jahr zurückliegt. Menschen mit besonderen medizinischen Problemen, da berät sie aber ihr Hausarzt.
Absehbar, wenn wir diese jetzt kommende Booster Welle der älteren Mitbürger abgearbeitet haben, werden die Empfehlungen sicherlich weiter ausgedehnt, persönlich sehe ich im nächsten Schritt hier das Alter ab 50 als sinnvoll an, bevor es für alle empfohlen wird.
Frage: Wenn Sie sagen, dass die 2G-Regel uns in die Bredouille bringt, was raten Sie denn für die bevorstehende Karnevalsaison, für die Weihnachtsfeiern, für die Weihnachtsmärkte?
Dr. Merbs: Ich nenne Ihnen einmal ein Beispiel. Wir hatten hier mehrere Busreisen, wo ältere Menschen gemeinsam für einige Tage einen Ausflug gemacht haben. Die Leute waren alle doppelt geimpft, sonst hätten sie nicht mitreisen dürfen.
Sie sind eingestiegen bei völliger Gesundheit und Symptomlosigkeit, und dennoch waren nach Ende der Reise viele infiziert. Sie haben sich gegenseitig durch den engen Kontakt miteinander angesteckt.
Frage: Was also tun?
Dr. Merbs: Die Antwort lautet, verhalten Sie sich noch eine Zeit lang vernĂĽnftig und zurĂĽckhaltend, was den Besuch von Veranstaltungen, also vermeidbare Kontaktsituationen, angeht.
Man muss in diesen Zeiten nicht zwingend feiern gehen. Die aktuelle Welle der Pandemie erreicht gerade einen noch nie gekannten Höchststand und unsere Reserven im Gesundheitssystem drohen erneut nicht zu reichen.
Man sollte daran denken, dass man sich natĂĽrlich bei einer Feier mit vielen Menschen auch als Geimpfter oder Genesener anstecken kann.
Frage: Was fĂĽr eine Perspektive gibt es da?
Dr. Merbs: Am wirksamsten wäre ein erneuter Lookdown, das zeigen die letzten Wellen der Pandemie. Wenn man um das rumkommen will, muss man jedes überflüssige Risiko einer Ansteckung vermeiden und zwar jetzt und konsequent. Allerdings sprechen die Bilder in den Medien z.B. vom Karnevalsbeginn da eine ganz andere Sprache.
Das Virus verbreitet sich in erster Linie ĂĽber direkte Kontakte, wenn es die nicht gibt, gibt es auch keine weiteren Ansteckungen.
Frage: War die Abschaffung der kostenlosen BĂĽrgertests ein Fehler?
Dr. Merbs: Wir sehen täglich bei den Schülertests, die ja verpflichtend durchzuführen sind, viele „Zufallsbefunde“. Also Menschen, die ansteckend sind, ohne selbst Krankheitssymptome zu haben. Konsequent sollte man mehr testen, um Infizierte zu finden, das ist richtig.
Anstatt jetzt einen teuren PCR Test von Ungeimpften vor dem Besuch einer Gaststätte zu verlangen, wäre eine Testung von allen Besuchern sinnvoll, weil auch Geimpfte und Genesene, wie auch Ungeimpfte ansteckend ohne Symptome sein können. Dazu brauchen wir aber wieder diese Infrastruktur.
Dort, wo es wirklich wichtig ist, zum Schutz vulnerabler Gruppen, wird es absehbar auch so kommen müssen. Damit meine ich zum Bespiel Mitarbeiter in Krankenhäusern, Pflegeheimen und überall dort, wo der Eintrag einer Infektion schwere Folgen für Dritte haben könnte.
Die Annahme, dass nur die nicht geimpften Mitarbeiter hier zu testen seien, gleicht einem Blindflug und wird bittere Konsequenzen nach sich ziehen.
Frage: Eine viel diskutierte Frage ist auch die Impfpflicht fĂĽr besondere Berufsgruppen. Was sagen Sie dazu?
Dr. Merbs: Ich glaube, wir haben jetzt verstanden, dass man trotz Impfung auch angesteckt werden und selbst ansteckend sein kann. Die Impfung minimiert mein persönliches Risiko eines schweren Verlaufs. Also bleibt es meine eigene Entscheidung, wie ich mit dieser Erkenntnis/Chance umgehe.
Anstatt an der Impfpflicht hängen zu bleiben, müssen wir doch jetzt nachsteuern und erkennen, dass die Impfung nicht alle in sie gesetzte Hoffnungen erfüllt, insbesondere in Bezug auf erneute Ansteckung und selbst ansteckend sein zu können.
Daher müssen wir weiterhin auf Kontaktreduktion, Abstand, Masken und Hygiene setzen. Gleichzeitig müssen wir im Sinne von Protektion gezielter unvermeidbare Kontaktpersonen (z.B. Pfleger und medizinisches Personal) durch systematische Testungen regelmäßig auf Ansteckungsfähigkeit durch geeignete Schnelltests kontrollieren.
Frage: Was glauben Sie, Herr Dr. Merbs, wie lange werden wir mit dem Virus noch leben mĂĽssen?
Dr. Merbs: Länger…bis lebenslänglich.