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Wahrnehmungsverschiebung

PolizeiprĂ€senz im Übermaß vor dem Landgericht Mannheim beim Berufungsprozess gegen eine Weinheimer Ärztin, die angeblich falsche Gesundheitszeugnisse ausgestellt haben soll: mit fĂŒnf Mannschaftswagen waren die OrdnungshĂŒter auf Anordnung des Vorsitzenden Richters der 12. Kleinen Strafkammer des Landgerichts angerĂŒckt. Foto: er

SERIE, Teil 9: Monika Wagner beobachtete das Berufungsverfahren vom 07. November 2023 bis 20. Februar 2024 vor dem Landgericht Mannheim gegen eine Weinheimer Ärztin und deren Praxisangestellte wegen des Verdachts auf Ausstellung unrichtiger Gesundheitszeugnisse

Heute berichten wir in unserer Serie von Tag 9 der Berufungsverhandlung, 24. Januar 2024.

Teil 1 ist nachzulesen unter: http://www.de-fakt.de/deutschland/details/?tx_ttnews

Als ich gegen 08:45 Uhr das Gericht erreiche herrscht bereits Massenandrang. Heute beginnen die Sicherheitschecks wieder im Glaskasten. Mit zwei uniformierten Beamtinnen plus zwei uniformierten Beamten nebst zwei kleinen Tischen ist der Windfang nach meinen Geschmack bereits ĂŒberfĂŒllt - auch ohne Zuschauer.

Es hilft nicht, ich muss warten bis ich an die Reihe komme und werfe schon mal einen besorgten Blick durch die Glasscheiben in Richtung SchließfĂ€cher. 22 von 24 sind bereits belegt. Der Beamte fragt, wo ich denn hin möchte, ich benenne die Verhandlung.

Ich soll ihm meinen Mantel und meine Handtasche zur Durchsuchung ĂŒbergeben und mich zwecks Leibesvisitation breitbeinig, rĂŒcklings vor die Beamtin stellen, die mich dann auch von oben bis unten grĂŒndlichst abtastet.

AuffÀllig viel Presse im Foyer

Die Abtastung ergab nichts, die Durchsuchung von Handtasche und Mantel förderte auch keine unerlaubten GegenstĂ€nde zu Tage, also weiter geht's. Ich eile sofort zum Schließfach um das vorletzte, freie Fach zu belegen.

Es ist auffĂ€llig viel Presse im Foyer. Das Publikum ist in Bezug auf Alter und Ethnie sehr gemischt. Die Schlange vor dem Sicherheitscheck zu Saal 1 und Saal 2 bereits extrem lang, so dass ich befĂŒrchte gar nicht mehr in den Sitzungssaal hineinzukommen.

Egal, zuerst muss ich nochmal auf Toilette, auch dort herrscht bereits großer Andrang. Hier erfahre ich die Ursache des Massenauflaufs: Parallel zu dem Maskenprozess findet heute die Verhandlung gegen zwei Polizeibeamte statt. Tatvorwurf: „Körperverletzung mit Todesfolge“. Auch fĂŒr die Prozessbeobachter dieses Verfahrens gelten die verschĂ€rften Sicherheitsvorkehrungen.

Es geht nichts vorwÀrts

Ich stelle mich an der Schlange an und warte. Es geht nichts vorwĂ€rts. Gleich mehrere Pressevertreter sind nicht bereit sich den Sicherheitsmaßnahmen zu unterziehen. Und dass sie ihr Equipment nicht mitnehmen dĂŒrfen, sehen sie nun mal gar nicht ein.

Ein Kameramann mit einer riesigen, schweren Schulterkamera steht bereits an der Seite und wartet. Eine junge Journalistin mit nordeuropÀischem Akzent diskutiert aufgebracht mit den Beamten. Diese beharren auf ihren Anweisungen.

Auch Journalisten mit Presseausweis dĂŒrfen ihr Handy nicht mitnehmen

Weitere Beamte schalten sich in die Diskussion ein: Nein, auch als Journalistin mit Presseausweis darf sie ihr Handy nicht mitnehmen. Ja aber..., ihr Kollege sei ja auch durchgekommen. Die Beamten suchen sofort nach dem Kollegen. Er ist bereits hinter dem Metalldetektor aber noch nicht im Saal.

Es klÀrt sich, dass er sein Handy bereits weggeschlossen hat und sie möge dies bitte auch tun. ZÀhneknirschend verlÀsst sie die Schlange. Es ist bereits 09 Uhr.

Plötzlich werde ich von der Seite angesprochen. Eine weitere Prozessbeobachterin, die regelmĂ€ĂŸig den Maskenprozess verfolgt, möchte wissen, ob ich ein Schließfach habe, da alle belegt sind.

Ich gebe ihr meinen SchlĂŒssel, kann aber nicht garantieren, dass ihre Tasche noch hineinpasst. Es klappt. Wieder bin ich in der Schlange ein paar Schritte weiter.

Plötzlich sucht die Mitarbeiterin von Dr. Jiang hĂ€nderingend jemand mit Schließfach, um ihr Handy wegzuschließen. Schwierig. Ich gebe ihr den SchlĂŒssel. Am Ende teilen sich fĂŒnf Prozessbeobachter ein Schließfach.

Prozessverlegung in kleineren Saal 2

Das ist auch nur möglich, da wir uns inzwischen kennen, mit Unbekannten hÀtte ich das Fach nicht geteilt. Endlich komme ich an die Reihe. Fotografieren des Ausweises. Durchleuchtung. Metalldetektor. Abtasten.

GewohnheitsmĂ€ĂŸig will ich in Saal 1, die Beamtin weist mich darauf hin dass der Maskenprozess heute in Saal 2 stattfindet. Saal 2 ist erheblich kleiner als Saal 1, die Prozessbeteiligten sitzen spiegelverkehrt.

Auf die Reservierung von Sitzreihen fĂŒr die Presse wurde verzichtet. 09:25 Uhr die Verhandlung beginnt. Auch die Schöffinnen sitzen heute in spiegelverkehrter Reihenfolge – irgendwie irritiert mich das.

Die Staatsanwaltschaft wird heute erstmalig von einem dunkelhaarigen, Ă€ußerst jung aussehenden Mann vertreten, der dem Publikum nicht namentlich vorgestellt wird.

Die 12. Kleine Strafkammer wird durch den Vorsitzenden Richter Dr. Christian Hirsch, sowie die Schöffinnen Jachin und Boaz vertreten. Dr. Jiang befindet sich in Begleitung ihrer Wahlverteidiger Rechtsanwalt KĂŒnnemann, Rechtsanwalt Lausen und Rechtsanwalt Willanzheimer.

Rechtsanwalt KĂŒnnemann erklĂ€rt zu dem abgelehnten Beweisantrag den Experten aus Österreich als Gutachter einzubringen, er habe diesen nicht erneut geladen. Ebenfalls abgelehnt wurde der Beweisantrag Herrn Kisielinski als Gutachter einzubringen.

In diesem Fall möchte die Verteidigung die weitere Entwicklung des Verfahrens abwarten, um gegebenenfalls diesen erneut per Selbstladeverfahren einzubestellen. Außerdem möchte Rechtsanwalt KĂŒnnemann wissen, warum wieder so viel Polizeibeamte im Haus sind.

Rechtsanwalt Lausen stellt seine Standardfrage: „Gab es Störungen bei der letzten Sitzung?“ Der Richter verneint. ...und ewig grĂŒĂŸt..., Rechtsanwalt Lausen stellt einen Antrag auf Aufhebung der sicherheitspolizeilichen Maßnahmen, diese seien unverhĂ€ltnismĂ€ĂŸig und nicht geeignet etwaige Störungen zu verhindern.

„Namenloser“ Staatsanwalt

Der „namenlose“ Staatsanwalt tritt diesem Antrag entgegen. Dr. Hirsch verfĂŒgt: Die sicherheitspolizeiliche Anordnung vom 13. Oktober 2023 bleibt aufrecht erhalten. Rechtsanwalt Lausen beantragt hierzu eine gerichtliche Entscheidung.

Dr. Hirsch fragt den Staatsanwalt (immer noch ohne Nennung eines Namens, was ich etwas merkwĂŒrdig finde), ob er hierzu eine ErklĂ€rung abgeben möchte - will er nicht.

Die Sitzung wird unterbrochen, das Gericht zieht sich zur Beratung zurĂŒck. Es ergeht folgender Beschluss: Die VerfĂŒgung wird bestĂ€tigt, die DurchfĂŒhrung der sicherheitspolizeilichen Anordnung ist aus Sicht der Kammer nach wie vor erforderlich.

09:35 Uhr kommt ein Pressevertreter der Alternativen Medien in den Saal, der Lokalreporter der Weinheimer Nachrichten ist heute nicht da. Der Pressevertreter entschuldigt sich - es war kein Schließfach mehr frei. Das Publikum schmunzelt. Dr. Hirsch nimmt es kommentarlos zur Kenntnis.

Rechtsanwalt Lausen widerspricht erneut dem Einscannen der Ausweise. Das Verhalten der Zuschauer kann nicht auf das Scannen der Ausweise zurĂŒckgefĂŒhrt werden.

Hierbei handelt es sich nicht um eine spezifische Maßnahme zur Sicherung der Ordnung, sondern um eine bloße Behauptung, die nach seiner Auffassung unzulĂ€ssig ist. Er möchte eine Unterbrechung der Sitzung damit die Verteidiger ihr weiteres Vorgehen in dieser Frage abstimmen können.

Rechtsanwalt Willanzheimer sieht in der BegrĂŒndung des Gerichts einen Zirkelschluss. Es gab bis dato keine Störung. Die BegrĂŒndung zieht nur dann, wenn mindestens ein Tag ohne sicherheitspolizeiliche Anordnung durchgefĂŒhrt worden wĂ€re und dieser Tag zu einer Störung gefĂŒhrt hĂ€tte.

Rechtsanwalt KĂŒnnemann stellt heute den Befangenheitsantrag

Der Staatsanwalt tritt dieser ErklĂ€rung entgegen, er hĂ€lt die Maßnahmen fĂŒr gerechtfertigt. Die Sitzung wird unterbrochen, die Kammer zieht sich zur Beratung zurĂŒck. Beschluss der Kammer: „Die Gegenvorstellung der Verteidiger kann die Sichtweise der Kammer nicht abwenden, die Anordnung bleibt, da diese aus Sicht der Kammer verhĂ€ltnismĂ€ĂŸig ist.“

...same procedure as last time, ... heute stellt Rechtsanwalt KĂŒnnemann den Befangenheitsantrag und bittet um eine ausreichende Frist zur schriftlichen BegrĂŒndung. Über diese Frist möchte Dr. Hirsch spĂ€ter entscheiden.

Die RechtsanwĂ€lte KĂŒnnemann und Lausen geben zu diesem Zeitpunkt keine weiteren ErklĂ€rungen ab, da es kurz vor 10 Uhr ist und die Zeugin R. um 10 Uhr gehört werden soll. Die Verhandlung wird erneut fĂŒr wenige Minuten unterbrochen.

Karlsruher SicherheitskrĂ€fte unterstĂŒtzen Mannheimer Kollegen

Rechtsanwalt Willanzheimer soll Dr. Hirsch die BegrĂŒndung seines neuen Beweisantrags schriftlich zusenden, „da es leichter ist wenn die Prozessbeteiligten wĂ€hrend des mĂŒndlichen Vortrags mitlesen können“.

In der kurzen Pause erfahren die Zuschauer, dass die Mannheimer SicherheitskrĂ€fte heute UnterstĂŒtzung aus Karlsruhe erhalten haben. Es scheint weder alltĂ€glich noch ungewöhnlich zu sein SicherheitskrĂ€fte quer durch's LĂ€ndle zu verschicken.

Dass er hier mehr oder weniger einen „Senioren-Club“ bewachen soll, das erstaunt den Beamten dann doch. Immerhin wurde die nahezu 1:1 Betreuung an den ersten Verhandlungstagen gewaltig reduziert. Zwei bis drei Beamte im Saal reichen nun aus um die potentiell renitenten Senioren im Griff zu halten (Ironie aus).

Erstermittelnde StaatsanwÀltin R. erscheint als Zeugin vor Gericht

10:00 Uhr, die Zeugin R. wird aufgerufen. Statt der Zeugin öffnet eine Justizbeamtin die TĂŒr und erklĂ€rt die Zeugin sei anwesend, stecke aber noch in der Einlasskontrolle fest. Der Vorsitzende Richter stellt fest: „Die Zeugin ist hier, sie wurde ĂŒber Gerichtsvollzieher geladen. Sie ist der Ladung gefolgt und pĂŒnktlich vor Gericht erschienen.“

Eine junge, dunkel gekleidete Frau mit rötlichem, pfiffigem Haarschnitt betritt den Saal. Die FormalitĂ€ten werden abgearbeitet, eine Aussagegenehmigung liegt vor. Die StaatsanwĂ€ltin fĂŒhlt sich in der ihr zugedachten Zeugenrolle sichtlich unwohl.

Der von der Verteidigung gestellte Beweisantrag dient der KlÀrung der Frage: Warum die Ermittlungen wieder aufgenommen wurden, die die Zeugin zuvor einstellen wollte?

Es steht die Vermutung im Raum, dass der Kammeranwalt JĂŒrgen Gremmelmaier Druck auf die Zeugin ausĂŒbte, um eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens zu verhindern. Die Sitzung wird bis 10:30 Uhr unterbrochen, die Kammer zieht sich zurĂŒck, um ĂŒber diesen Beweisantrag zu beraten.

Beweisantrag zur Vernehmung der StaatsanwÀltin R. wird abgelehnt

10:30 Uhr, der Vorsitzende Richter der 12. Kleinen Strafkammer verkĂŒndet folgenden Beschluss: „Der von Rechtsanwalt Willanzheimer gestellte Beweisantrag auf Vernehmung der StaatsanwĂ€ltin Frau R. als Zeugin wird abgelehnt. Die Tatsachen die mittels des Beweisantrags hervorgebracht werden sollen stehen in keinem Zusammenhang mit der Urteilsfindung.“

Rechtsanwalt Willanzheimer stellt einen neuen Beweisantrag. Dass der Leitende Oberstaatsanwalt JĂŒrgen Gremmelmaier ein Vorgesetzter von StaatsanwĂ€ltin R. ist, ist nun einmal eine Tatsache.

Nach EinschÀtzung der Verteidigung traute sich Frau R. nicht entgegen dem Willen von Oberstaatsanwalt Gremmelmaier bei ihrer eigenen EinschÀtzung der Sachlage und der daraus resultierenden Entscheidung zu bleiben.

Der (immer noch namenlose) Staatsanwalt lehnt den neuen Beweisantrag ab. Er sieht keinen Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass der Leitende Oberstaatsanwalt Gremmelmaier der Vorgesetzte der StaatsanwÀltin Frau R. ist und der Urteilsfindung. Der Beweisantrag diene nicht der AufklÀrungspflicht.

Junge Mutter im Zeugenstuhl wirkt gleichermaßen sehr sympathisch wie unsicher

Dr. Hirsch unterbricht um 10:40 Uhr erneut die Verhandlung. Bis 11 Uhr zieht sich die Kammer zur Beratung zurĂŒck. Auf dem Zeugenstuhl sitzt eine junge Mutter die gleichermaßen sehr sympathisch wie unsicher wirkt.

Dr. Hirsch verkĂŒndet folgenden Beschluss: Der Beweisantrag von Rechtsanwalt Willanzheimer wird abgelehnt. Ob sich Frau R. getraut habe gegen den Oberstaatsanwalt zu handeln, spiele fĂŒr die Urteilsfindung keine Rolle.

Rechtsanwalt Lausen liest eine Gegendarstellung vor und zitiert aus einem Lehrbuch bzgl. des angeblich fehlenden Sachzusammenhangs gemĂ€ĂŸ § 245, Abs.3 StPO. Rechtsanwalt Willanzheimer verweist ebenfalls auf einen Lehrbuch-Kommentar zum fehlenden Sachzusammenhang. Dr. Hirsch fragt den Staatsanwalt, ob er auch eine ErklĂ€rung abgeben möchte - will er nicht.

Die Sitzung wird erneut unterbrochen, die Kammer zieht sich zur Beratung zurĂŒck. Die Zeugin sitzt hilflos auf ihrem Stuhl und wartet. Es ergeht folgender Beschluss: Auch die Gegenvorstellung der Verteidigung wird abgelehnt. Die (noch am Zeugentisch sitzende) StaatsanwĂ€ltin Frau R. wird nicht als Zeugin vernommen.

Rechtsanwalt Willanzheimer legt mit weiterem Beweisantrag nach und scheitert erneut

Rechtsanwalt Willanzheimer legt mit einem weiteren Beweisantrag nach: „Das Tatbestandsmerkmal der Behörde ist nicht proklamiert, die StaatsanwĂ€ltin Frau R. ist zu vernehmen im Hinblick auf § 278 StGB in seiner alten Fassung.

Herr B., von der Polizei, hatte wohl Bedenken gegenĂŒber der vermeintlichen Strafbarkeit der Handlungen von Dr. Jiang reagierte aber nicht. Dr. Jiang durfte weiter gewĂ€hren, die StaatsanwĂ€ltin R. ließ die Ärztin nicht festnehmen.“

Der Staatsanwalt tritt dem Beweisantrag entgegen. Zu der Reaktion des Polizeibeamten B. auf die im Raum stehenden „falschen Atteste“ und einer möglichen eben nicht statt gefundenen Gefahrenabwehr sagt er – nichts. Die Sitzung wird erneut fĂŒr 15 Minuten unterbrochen, die Kammer zieht sich zur Beratung zurĂŒck.

Die Zeugin sitzt immer noch auf ihrem Platz. Beschluss der Kammer: Die neuen BeweisantrĂ€ge werden abgelehnt. „Das Tun der Angeklagten wurde von der StaatsanwĂ€ltin R. nicht unterbunden.“ Rechtsanwalt Willanzheimer hĂ€lt dagegen, Zitat: „Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals hat nichts mit dem Urteil zu tun.“ Rechtsanwalt Lausen verweist auf den vorher zitierten Kommentar, dieser legt weiter aus, ohne Tatbestand kein Verfahren.

Strafkammer lehnt die BeweisantrÀge weiterhin ab

Dr. Hirsch fragt den Staatsanwalt ob er auch etwas erklĂ€ren möchte - will er nicht. Die Sitzung wird erneut fĂŒr 5 Minuten unterbrochen, die Kammer zieht sich zur Beratung zurĂŒck. Beschluss: Die Strafkammer lehnt die BeweisantrĂ€ge weiterhin ab.

(In diesen fĂŒnf Minuten kam die Kammer nicht nur zu einem Beratungsergebnis sondern schaffte es auch selbiges schriftlich zu begrĂŒnden. Die BegrĂŒndung wird vorgelesen, die Kopien an die Prozessbeteiligten verteilt. Respekt! - und UnglĂ€ubigkeit im Publikum, dass dies binnen 5 Minuten alles möglich ist).

...same procedure..., Rechtsanwalt KĂŒnnemann stellt einen Befangenheitsantrag gegen die komplette Kammer mit der Bitte um eine angemessene Frist zur schriftlichen BegrĂŒndung. Außerdem spricht sich die Verteidigung gegen die Entlassung von Frau R. aus dem Zeugenstand aus. Auch zu diesem Punkt wird der Staatsanwalt gefragt ob er sich Ă€ußern möchte - will er nicht.

Rechtsanwalt KĂŒnnemann stellt einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemĂ€ĂŸ § 235a StPO. Die Sitzung wird unterbrochen, die Kammer zieht sich zur Beratung zurĂŒck.

Die Zeugin R. sitzt noch immer am Zeugentisch. Beschluss der Kammer: Die Zeugin wird entlassen, nachdem die Kammer sĂ€mtliche GrĂŒnde fĂŒr eine Einvernahme als Zeugin abgelehnt hat. Die Zeugin, StaatsanwĂ€ltin R. nimmt ihre Tasche und geht.

Sitzungspolizeiliche Anordnung erneut beanstandet

Rechtsanwalt Lausen beanstandet erneut die sitzungspolizeiliche Anordnung: Da heute alle Ausweise fĂŒr den Sitzungssaal 1 und fĂŒr den Sitzungssaal 2 gemeinsam erfasst werden. Bei der Erfassung der Ausweise ist also völlig unklar, ob ein potentieller Störer sich auf den Weg in Saal 1 oder Saal 2 macht. Damit stehen alle Zuschauer unter Generalverdacht.

Die Prozessbeobachter mĂŒssten zumindest getrennt kontrolliert werden, um hier die Übersicht zu behalten. Rechtsanwalt Willanzheimer kĂŒndigt gleich drei neue BeweisantrĂ€ge an. Dr. Hirsch unterbricht die Sitzung zwecks Mittagspause bis 13:15 Uhr.

„Können nicht nachvollziehen, warum anwesende Zeugen nicht befragt werden“

Heute gehe ich mit drei weiteren Prozessbeobachtern zum Mittagessen in die Innenstadt. Thema der Unterhaltung ist natĂŒrlich die Nichtbefragung der Zeugen Oberstaatsanwalt Gremmelmaier und StaatsanwĂ€ltin R.. Wir können nicht wirklich nachvollziehen, warum die anwesenden Zeugen nicht befragt werden.

Bei der Angestellten von Dr. Jiang war die Sache klar - solange die Angelegenheit nicht in trockenen TĂŒchern ist könnte sie sich theoretisch belasten, aber zwei StaatsanwĂ€lte?

Einerseits hat der Vorsitzende Richter die junge StaatsanwĂ€ltin davor bewahrt gegen ihren Vorgesetzten aussagen zu mĂŒssen, andererseits geht es fĂŒr Dr. Jiang um eine Haftstrafe, die bei einer 60-jĂ€hrigen wohl auch das Ende ihrer beruflichen TĂ€tigkeit bedeuten wĂŒrde. Denn ist die Praxis ist dann erst einmal geschlossen...

13:15 Uhr, Dr. Hirsch kommt ohne Robe in den Saal und verteilt die schriftliche Ausfertigung der Ablehnungsbescheide an die RechtsanwÀlte und den Staatsanwalt.

Drei neue BeweisantrÀge

Heute hat das Publikum ĂŒber die Mittagszeit auch einen gewissen Schwund erlitten aber nicht in der AusprĂ€gung wie an den vorherigen Prozesstagen mit den extrem langen Pausen. 13:30 Uhr, die Sitzung beginnt mit drei neuen BeweisantrĂ€gen durch Rechtsanwalt Willanzheimer:

1) Die leitende Ärztin des Hausarztverbandes aus Stuttgart soll als SachverstĂ€ndige gehört werden. WĂ€hrend der Corona-Krise stellten HausĂ€rzte in Baden-WĂŒrttemberg keine Atteste aus, auch wenn dies medizinisch geboten war. HausĂ€rzte, die Maskenatteste ausstellten, kamen auf eine sogenannte „Schwarze Liste“, daher lehnten viele Ärzte aus Angst ab Atteste auszustellen, auch wenn es notwendig war.

2) 2019 war es ĂŒblich Gesundheitszeugnisse ohne Ă€rztliche, körperliche Untersuchung auszustellen. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Rechtsauffassung des OLG Celle (Beschluss vom 16.11.2022 AZ: 2Ss137/22):

Ohne körperliche Untersuchung kann kein Gesundheitszeugnis ausgestellt werden. (Ich denke, naja, 2019/2020 gab es selbst Krankmeldungen auf Zuruf besser gesagt Anruf - da die Ärzte nicht wollten, dass die Patienten die Praxis aufsuchen).

3) Verweist er auf ein Video der BundesĂ€rztekammer, aus dem hervorgeht, dass Ă€rztliche Fernbehandlungen nicht mehr unĂŒblich sind. Das Protokoll hierĂŒber soll in die Verhandlung eingefĂŒhrt und verlesen werden. Telemedizin ist seit 2019 ĂŒblich.

Der Staatsanwalt tritt den AntrĂ€gen entgegen, sie seien ohne Beweiskraft fĂŒr die Urteilsfindung. Rechtsanwalt KĂŒnnemann weist daraufhin, dass eine Bescheinigung mit Diagnose fĂŒr die Beurteilung bei Versicherungen nicht ausreichend ist. Daher möchte er einen leitenden Mitarbeiter von der Versicherungsgesellschaft „Generali“ hierzu hören.

Rechtliche Entscheidungen des Bundesgerichtshofs nicht beachtet?

Dieser soll bestÀtigten, dass neben der Diagnose noch weitere Kriterien zur Beurteilung eines Leistungsfalls notwendig sind. Der Staatsanwalt tritt dem Beweisantrag entgegen.

Weiter weist Rechtsanwalt KĂŒnnemann auf rechtliche Entscheidungen des Bundesgerichtshof (BGH) hin und fordert, dass der § 278 in seiner alten Fassung verlesen wird.

Dem gemĂ€ĂŸ ist in diesem Verfahren ein Freispruch zu fordern. Behörden sind laut BHG alte Fassung des § 278 nur solche Stellen, die derartige Gesundheitszeugnisse verwenden.

Es ging in einer Entscheidung um die strafrechtliche Auslegung des Behördenbegriffs im Zusammenhang mit dem Apothekengesetz. Es ging um die Frage: Was ist eine Behörde? Schul- und Ordnungsbehörden erfĂŒllen eben gerade nicht den Behördenbegriff, Sozialversicherungen fallen darunter.

Rechtsanwalt KĂŒnnemann weist daraufhin, dass BGH-Urteile zwingend zu beachten sind. Abweichungen von der Rechtsprechung des BGH ohne vorherige AnkĂŒndigung sind ein Revisionsgrund. Die Verteidigung fordert Freispruch.

Begehrtes RechtsgesprÀch erneut verweigert

Rechtsanwalt Lausen beantragt ein RechtsgesprÀch. Dr. Hirsch fragt den Staatsanwalt ob er dazu Stellung nehmen möchte - will er nicht.

Die Sitzung wird unterbrochen, die Kammer zieht sich zu einer 10-minĂŒtigen Beratung zurĂŒck. Beschluss: Der Antrag von Rechtsanwalt KĂŒnnemann wird abgelehnt. Das Beweisprogramm ist erledigt. Der BGH-Behördenbegriff ist der Kammer bekannt. Das von Rechtsanwalt Lausen beantragte RechtsgesprĂ€ch wird abgelehnt.

Die BeschlĂŒsse und schriftliche BegrĂŒndung werden an die Prozessbeteiligten verteilt. Die Verteidigung möchte neue BeweisantrĂ€ge diskutieren, daher wird die Sitzung bis 14:15 Uhr unterbrochen.

Rechtsanwalt Lausen widerspricht dem Beschluss der Kammer. Er sieht einen inneren Widerspruch zwischen dem Behördenbegriff des BGH und der Weigerung der Kammer diesen gemĂ€ĂŸ der BGH Definition anzuerkennen.

Er sieht eine Überdehnung des Rechtsbegriffs und verweist auf eine Entscheidung des Amtsgerichts Stuttgart Bad Cannstadt, in welchem Oberstaatsanwalt Gremmelmaier eine Rolle spielte (so ganz habe ich das nicht verstanden
).

Kein Fall bekannt, in dem ein Attest zur Vorlage bei einer Behörde genutzt wurde

Es wurde bis dato in diesem Gerichtsverfahren kein einziger Fall dem Gericht vorgelegt in dem tatsÀchlich ein Attest zur Vorlage bei einer Behörde, nach dem Behördenbegriff des BGH, genutzt wurde.

Rechtsanwalt Lausen stellt die Frage, bei welchen Behörden nach Auffassung des Gerichts ein solches Attest mißbrĂ€uchlich vorgelegt wurde? Dr. Hirsch fragt den Staatsanwalt ob er hierzu Stellung nehmen möchte - will er nicht.

Die Sitzung wird unterbrochen, die Kammer zieht sich zur Beratung zurĂŒck. Beschluss: Der Beweisantrag von Rechtsanwalt Lausen auf ein BeratungsgesprĂ€ch wird abgelehnt. Laut 12. Kleiner Strafkammer handelt es sich nur um eine „Kann“-Vorschrift, diese sei nicht verpflichtend.

Ranken um den nÀchsten Gerichtstermin

Rechtsanwalt KĂŒnnemann will nun doch ein SachverstĂ€ndigengutachten von Dr. Kisielinski einholen und regt an den Verhandlungstermin 31. Januar 2024 ausfallen zu lassen.

Rechtsanwalt Lausen gibt an, er habe in der kommenden Woche drei Verhandlungstermine an unterschiedlichen Orten mit ReisetÀtigkeit zu absolvieren. Auch er möchte den Termin 31. Januar 2024 entfallen lassen und am 08. Februar 2024 die Verhandlung fortsetzen. Dr. Hirsch mahnt an, dass er dann am 08. Februar 2024 die SchlussvortrÀge hören möchte.

Rechtsanwalt Willanzheimer hat am 31. Januar 2024 auch keine Zeit, er ist in PrĂŒfungsabnahmen involviert. Dr. Hirsch erklĂ€rt die Beweisaufnahme fĂŒr abgeschlossen und fordert den Staatsanwalt auf sein PlĂ€doyer zu halten.

Erstmals anwesender namenloser Staatsanwalt trÀgt SchlussplÀdoyer vor

Damit haben die Prozessbeobachter und auch offenbar die RechtsanwÀlte nicht gerechnet. Der immer noch nicht namentlich benannte junge Staatsanwalt, der heute erstmalig als Vertreter der Staatsanwaltschaft Mannheim an der Verhandlung teilnimmt, trÀgt das SchlussplÀdoyer vor.

Im Wesentlichen eine Zusammenfassung der Anklageschrift bzw. des Urteils aus der ersten Instanz. Er sieht weiterhin 4.374 strafrelevante FĂ€lle. Da sich die Angeklagte in der Berufungsverhandlung zur Sache nicht Ă€ußerte, kann ein GestĂ€ndnis auch nicht strafmildernd gewertet werden.

Er bezeichnet Dr. Jiang als unbelehrbare ÜberzeugungstĂ€terin und sieht daher eine Wiederholungsgefahr. (Ich denke mir, na hoffentlich ist sie ÜberzeugungstĂ€terin, jeder Mensch sollte gemĂ€ĂŸ seiner Überzeugung handeln und nicht dagegen.)

In Bezug auf ihre Mitarbeiterin wirft er ihr anstiftendes Verhalten vor. Nur durch ihr Handeln sei ihre Mitarbeiterin in die missliche Lage gekommen, sich vor Gericht verantworten zu mĂŒssen (das Verfahren gegen sie wurde wĂ€hrend des Berufungsverfahrens bekanntlich eingestellt).

Angeklagter wegen Maskenbefreiungsattesten „kriminelle Energie“ unterstellt

Er bescheinigt der Angeklagten eine besondere „kriminelle Energie“ und sieht in dem Ausstellen von Mund-Nasen-Schutz-Befreiungsattesten ein „lukratives GeschĂ€ftsmodell“.

(Meiner Erfahrung nach gibt es keine „kriminelle Energie“. Es gibt nur Energie die fĂŒr das Interesse des einen oder eben gegen das Interesse des anderen eingesetzt werden kann. Gesetze und Rechtsvorschriften Ă€ndern sich, Energie ist wertfrei.

Wo er bei einer GebĂŒhr von 5,- bis 7,- Euro ein lukratives GeschĂ€ftsmodell erkennt, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Ein lukratives GeschĂ€ftsmodell waren die straffreien Maskendeals der Bundestagsabgeordneten, die das ĂŒber ihre Beraterkonstrukte „erwirtschaftete“ Geld behalten durften.)

Den Tatzeitraum unterteilt er in seiner Wertigkeit in zwei Abschnitte. Alle Taten bis zum 14. August 2020 sollen mit 100 TagessĂ€tzen, die Taten bis 01.10. 2021 mit 120 TagessĂ€tzen geahndet werden, dazu eine „kurze“ Freiheitsstrafe von 4 Monaten pro nachgewiesenem Fall (er meint vermutlich die 20 exemplarisch ausgewerteten FĂ€lle).

4 Jahre Haft, 1 Jahr Berufsverbot und Einziehung von 28.110,21 Euro gefordert

So kommt er insgesamt auf eine Forderung von 4 Jahren Haft, 1 Jahr Berufsverbot und die Einziehung von 28.110,21 Euro (wobei er keine Scheu hat das GeschÀftskonto bei der Sparda-Bank samt detaillierter IBAN-Nummer exakt zu benennen).

Außerdem sollen alle ausgestellten Atteste eingezogen werden. (Irgendwie habe ich den Teil im Mathematikunterricht verschlafen - ich kann die Aufrechnung nicht nachvollziehen.) Das eine Jahr Berufsverbot liegt ihm besonders am Herzen, da weitere Straftaten zu befĂŒrchten seien. Dr. Jiang ist schließlich ÜberzeugungstĂ€terin.

(Auch dieser Forderung kann ich nicht folgen. Denn, wenn das Gericht seinem Antrag folgen wĂŒrde, dann wĂŒrde dies selbst bei einer Halbstrafe, also einer 2-jĂ€hrigen Haftzeit, bedeuten, dass Dr. Jiang nicht als Ärztin tĂ€tig sein könnte. Insofern macht ein 1-jĂ€hriges Berufsverbot gar keinen Sinn. Oder hat er etwa die Vorstellung, dass sie als Ärztin in der Krankenabteilung der JVA tĂ€tig wird?)

Am Ende seines PlÀdoyers stellt er den Antrag: 4 Jahre Haftstrafe, plus Wertersatz, plus 1 Jahr Berufsverbot, plus Einzug der Maskenatteste.

Rechtsanwalt Willanzheimer kritisiert mehrer Punkte im SchlussplĂ€doyer des Staatsanwalts ohne öffentlich ins Detail zu gehen. Dr. Hirsch setzt Rechtsanwalt KĂŒnnemann eine Frist zur schriftlichen BegrĂŒndung seines Beweisantrags bis zum 25. Januar 2024, 18 Uhr. Den Verhandlungstermin 31. Januar 2024 möchte er beibehalten.

Schikane bei der Terminierung?

Rechtsanwalt Willanzheimer gibt an, er sei aufgrund der AbschlussprĂŒfungen zeitlich gebunden und könne unmöglich sein PlĂ€doyer bis zum 31. Januar 2024 vorbereiten. Rechtsanwalt Lausen verweist nochmals auf seine zahlreichen Verfahrenstermine mit ReisetĂ€tigkeit, auch er hat keine Zeit das SchlussplĂ€doyer in adĂ€quater Weise vorzubereiten.

Rechtsanwalt Willanzheimer beantragt eine gerichtliche Entscheidung. Er sieht eine Schikane in der Terminierung. Rechtsanwalt Lausen schließt sich dem an. Die Sitzung wird unterbrochen, die Kammer zieht sich zur Beratung zurĂŒck.

Jungem Staatsanwalt ein vorgefertigtes PlĂ€doyer zum Verlesen in die Hand gedrĂŒckt?

Beschluss: Der 31. Januar 2024 fÀllt als Verhandlungstermin aus. Die Verhandlung wird am 08. Februar 2024, 09 Uhr mit den SchlussplÀdoyers der RechtsanwÀlte fortgesetzt. Die heutige Verhandlung wird um 15:20 Uhr beendet.

Nach meinem persönlichen Eindruck wurde dem jungen Staatsanwalt ein vorgefertigtes PlĂ€doyer zur Verlesung in die Hand gedrĂŒckt und Dr. Hirsch wusste davon. Es wirkte auf mich wie die Inszenierung eines TheaterstĂŒcks.

Dies war meine Wahrnehmung des neunten Prozesstages. Aufzeichnungen der weiteren Prozesstage folgen jeweils freitags und montags. Hier geht's zu Teil 10: www.de-fakt.de/bundesland/hessen/details/?tx_ttnews