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Inklusion braucht Luft und Freiraum

Sozialdezernentin Stephanie Becker-Bösch, Thomas Mächtle, Geschäftsführer der Lebenshilfe Wetterau, Ute König, Leiterin der Sophie-Scholl-Grundschule (von links nach rechts).

Sozialdezernentin Becker-Bösch zu Gast in der Sophie-Scholl-Grundschule in Bad Nauheim

WETTERAUKREIS. - Die Sophie-Scholl-Schule Wetterau ist eine inklusive Grundschule in freier Trägerschaft. Gegründet wurde sie 2009 von der Lebenshilfe Wetterau, der das Schulgebäude an der Frankfurter Straße in Bad Nauheim auch gehört. Sozialdezernentin Stephanie Becker-Bösch unterhielt sich mit Schulleiterin Ute König über Inklusion, Teilhabe und Bildungschancen.

An einem kleinen Tisch vor dem Klassenraum, in dem die erste und zweite Klasse gemeinsam unterrichtet wird, sitzt Justus. Vor sich einen Spiegel und ein Buch und neben sich einen Pädagogen. Justus, ein Junge mit Down-Syndrom, muss nicht Nachsitzen, er lernt vielmehr Lesen.

Und auch der Spiegel hat seinen Sinn, er gehört zu dem so genannten Kieler Leseaufbau. Die Gebärden, die der Junge an sich im Spiegel beobachtet, unterstützen seine Laute. Dadurch liest Justus langsamer und es wird einfacher für ihn, die Buchstaben zu Silben zusammenzuziehen.

Auch die dritte und vierte Klasse wird gemeinsam unterrichtet. In den Klassen sind stets ein bis zwei Lehrkräfte, in den Hauptfächern zwei, eine Person, die das Freiwillige Soziales Jahr ableistet und ein Erzieher, der ab dem Mittagessen dabei ist und mit den Kindern in den Nachmittag übergeht.

Pro Klasse kommen noch zwei bis vier Teilhabeassistenten dazu. Diese werden für jedes Kind einzeln genehmigt, unabhängig von der Klassensituation. Dadurch kann es vorkommen, dass es Unterrichtssituationen mit zu vielen Erwachsenen gibt, während die Teilhabeassistenten in anderen fehlen.

„Hier wünschen wir uns mehr Flexibilität und eine andere Form der Bewilligung, zum Beispiel eine Budgetlösung“, so Schulleiterin Ute König. Sie regt an darüber nachzudenken, die Teilhabeassistenten der Schulleitung zu unterstellen, um einen passgenauen Einsatz zu vereinfachen.

Seit 1978 gibt es eine gesetzliche Schulpflicht auch für Geistig Behinderte Kinder. Die Sophie-Scholl-Schule ist als inklusive Schule offen für alle Kinder, das heißt sowohl für behinderte als auch nicht behinderte. Das Konzept sieht Klassen mit 22 Kindern vor, von denen 5 Kinder einen besonderen Förderbedarf haben.

Dabei handelt es sich um unterschiedliche Diagnosen, wie zum Beispiel Down-Syndrom, emotionale Auffälligkeiten, unklare Befunde oder das Sturge-Weber-Syndrom. König hebt vor allem den Nutzen des gemeinsamen Lernens für die Kinder ohne Förderbedarf hervor: „Alle Kinder entwickeln bei uns eine ausgeprägte Sozialkompetenz und können durch die differenzierte Lernweise sehr individuell entsprechend ihren Begabungen gefördert werden“.

Deshalb wird die Schule auch für hochbegabte Kinder ausgewählt. „Inklusion ist eine große Chance, besonders auch für Kinder mit einer Mehrfachbehinderung“, sagt Sozialdezernentin Stephanie Becker-Bösch.

Inklusion braucht Luft und Freiraum

Und wie geht es nach der vierten Klasse weiter? Das Staatliche Schulamt ist aktiv bei der Inklusion dabei, die Schulleitungen der Regelschulen ziehen mit, weiterführende Schulen sind auch an Hospitationen in der Sophie-Scholl-Schule interessiert, denn die Lehrerausbildung an den Universitäten ist noch nicht auf Inklusion ausgerichtet und der Markt für geeignete Pädagogen leergefegt.

Dass sich an den Schulen etwas bewegt zeigt das Beispiel von zwei geistig behinderten Kindern, die nach der vierten Klasse an die Solgrabenschule wechselten. „Die Lehrer haben zuvor bei uns hospitiert, der Übergang klappte und es läuft gut dort“, erzählt Ute König. „Die Schulleitungen sind offen dafür“, sagt sie. Und auch den umgekehrten Weg gibt es. Ein Mädchen ging nach der vierten Klasse an die Wartbergschule ab und war glücklich damit: Jetzt ist sie endlich mal die Beste.

Vom jüdischen Kinderheim zur inklusiven Grundschule

Das Schulgebäude der Sophie-Scholl-Schule hat eine bewegte Vergangenheit hinter sich. 1899 als Kurheim für jüdische Kinder eröffnet musste es 1936 schließen. Von 1937 bis 1940 war es jüdische Bezirksschule. Im Rahmen der Kinderlandverschickung wurde es für die Pimpfe der HJ genutzt.

Nach dem Krieg war das Gebäude Erholungszentrum für jüdische Kinder, danach Standort verschiedener Schulen: Kaufmännische Berufsschule, Waldorfschule, Stadtschule und seit 2009 die Sophie-Scholl-Schule.