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Wenn Überleben als Schuld erscheinen kann

Lilly Maier bei ihrem Vortrag in der Erbacher Stadtkirche. Foto: Bernhard Bergmann

ERBACH / MICHELSTADT. - Nach den Novemberpogromen 1938 gegen jĂŒdische MitbĂŒrger, GeschĂ€fte und Synagogen begann eine Rettungsaktion fĂŒr Kinder und Jugendliche, die unter dem Stichwort „Kindertransport“ in die Geschichte einging.

Rund 15.000 junge Menschen konnten so vor den Nationalsozialisten gerettet werden.

Über dieses Thema sprach die Historikerin und Journalistin Lilly Maier (MĂŒnchen), die auf Einladung von Theresa Möke, Referentin fĂŒr Gesellschaftliche Verantwortung im Evangelischen Dekanat Odenwald, gekommen war.

In der Erbacher Stadtkirche erinnerte Maier daran, dass die meisten der Kinder in Großbritannien in Pflegefamilien oder Heimen Aufnahme fanden.

„Einige wurden aber auch nach Schweden, in die BeneluxlĂ€nder, die Schweiz oder in die USA gebracht“, erinnerte sie – sowie nach Frankreich, welches Unterkapitel den besonderen Forschungsschwerpunkt der Historikerin Maier darstellt.

Deutlich wurde in ihrem Referat auch, dass manche der Kinder nach dem spĂ€teren Überfall Deutschlands auf die jeweiligen GastlĂ€nder noch weiter fliehen mussten, wie etwa im Fall von Frankreich oder den Beneluxstaaten.

ZunĂ€chst waren in Deutschland und Österreich hohe bĂŒrokratische und auch Ă€rztliche HĂŒrden zu ĂŒberwinden, bevor die Kinder ĂŒberhaupt eine Ausreisegenehmigung bekamen. Die Abfahrt erfolgte dann oft sehr plötzlich und wurde wie ein Schock erlebt, legte Maier dar.

Viele Kinder fĂŒhlten sich abgeschoben, sahen ihre Ausreise als Strafe an. Die Trennung von Eltern, Großeltern und Geschwistern stellte ein schweres Trauma und eine BĂŒrde fĂŒr das weitere Leben dar.

Oftmals belasteten SchuldgefĂŒhle die „Kinder“, die auch spĂ€ter weiterhin so bezeichnet wurden, um diese gemeinsame Geschichte zu verdeutlichen; so trieb viele etwa die Frage um, warum sie ĂŒberlebt haben, ihre ganze Familie aber ermordet wurde. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 endeten die Kindertransporte abrupt.

In den GastlĂ€ndern fassten die Kinder in der Regel Fuß, viele wurden in ihren Berufen sehr erfolgreich, und die meisten grĂŒndeten eigene Familien.

„Aber lange wurde ĂŒber diese Geschichte geschwiegen“, so Lilly Maier. Erst in den Achtzigerjahren, also etwa 50 Jahre spĂ€ter, kam nach und nach Interesse an diesem Kapitel der Geschichte auf.

Auch die „Kinder“, die in den meisten FĂ€llen gleich nach Ankunft getrennt worden waren, fanden nach und nach zusammen, und unter ihnen entstand spĂ€t erst das Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft.

Das Interesse an den eigenen Wurzeln fĂŒhrte einige von ihnen erstmals zurĂŒck nach Deutschland sowie nach Wien oder Prag. „Gemeinsamkeit ist identitĂ€tsstiftend“, erklĂ€rte Historikerin Maier. Die „Kinder“ seien wie eine große Familie.

Bereits am Nachmittag hatte Lilly Maier vor Konfirmanden in der MichelstĂ€dter Stadtkirche aus ihrer Arbeit berichtet – hier freilich noch mit einem ganz persönlichen Bezug.

Der Ausgangspunkt ihrer Forschungen zur Kindertransport-Thematik liegt nÀmlich in einer privaten Begegnung aus Kindertagen, aus der eine innige Freundschaft wurde.

Arthur Kern aus Kalifornien hatte als Kind bis 1939 in dem Haus in Wien gelebt, in dem Lilly Maier spÀter in den Neunzigerjahren aufwuchs.

Als Kern auf der Suche nach seinen Wurzeln nach Wien kam, von wo er als ZehnjĂ€hriger von seinen Eltern auf einen Kindertransport geschickt worden war, begegneten die beiden einander. Aus dieser Erfahrung und den folgenden jahrelangen Recherchen entstand Lilly Maiers erstes Buch „Arthur und Lilly“.

In ihrem MichelstĂ€dter Vortrag erstand fĂŒr die junge Zuhörerschaft ein plastisches Bild einer glĂŒcklichen und zunĂ€chst sorglosen Kindheit in den frĂŒhen Dreißigerjahren. Der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 Ă€nderte gleichsam ĂŒber Nacht alles.

Im MĂ€rz 1939 konnte der Junge ausreisen, was ihn zunĂ€chst nach Frankreich und spĂ€ter in die USA fĂŒhrte. Sein Ă€lterer Bruder und seine Eltern wurden im Krieg nach Polen in ein Ghetto deportiert, wo sich ihre Spuren verlieren.

Einige wenige Fotos, die der Junge mitnahm, blieben seine einzigen Andenken. 2015 starb er, weit ĂŒber achtzig Jahre alt, in den USA, wo er beruflich in der Raumfahrttechnik erfolgreich gewesen war und seine eigene Familie gegrĂŒndet hatte.