Fröhliche Weihnachten? – Geschichte eines Zeitzeugen
Kramlich wusste nicht, was er da vor sich hatte, als er das Stück Holz aus dem Waldboden kickte. Wenn er nachdachte, tat er dies oft; Zweige schubsen oder von welken Blättern bedeckte Äste an die Oberfläche befördern. Gedanken über die Vergänglichkeit kamen ihm dann in den Sinn. Und die Erkenntnis darüber, wo der Fluss des Lebens einmal münden wird.
Der Tag vor Heiligabend war nasskalt. Lehm, Laub und Reif hafteten an dem Ast. Das war normal bei diesem Wetter. Was ließ den ehemaligen Förster aufmerken? Wie kam er dazu, sich diesen verrotteten Prügel genauer anzuschauen? Es fehlten die Ansätze von abgebrochenen Zweigen. Keine Kerben von früheren Austrieben, nur eine glatte Fläche mit kalter und feuchter Erde verklebt.
Mit dem Stiefel kratzte er etwas von der zähen Masse beiseite. Dann brach die Struktur in sich zusammen. Kramlich blickte auf einen Zeugen des allgegenwärtigen Verfalls im Wald. Ein Knochen von einem verendeten Rehbock? Vorsichtig schabte er mit der Schuhspitze weiter über den Fund.
Da fuhr ihm der Schreck in die Glieder. Eines dieser Ãœberbleibsel tierischen Lebens umschloss eine Armbanduhr. Er erkannte die einzelnen Glieder des metallenen Bandes. Das Glas war zerbrochen, die Zeiger fehlten und der Korpus war vom Rost zerfressen.
Es ist der Sommer 1941, als Krzysztof Rudzinski über einen staubigen Feldweg zum Schattenberghof geführt wird. Die beiden Soldaten schwitzen. Auch ihnen macht der Anstieg zu schaffen. Die Wasserflaschen sind leer, auf dem Rücken schaben die Karabiner. Krzysztof haben sie in ihre Mitte genommen.
Bei den Burgmaiers ist er zur Heuernte eingeteilt. Das Abzeichen mit dem violetten P auf gelbem Grund markiert seine Herkunft und Status. Alle polnischen Zwangsarbeiter müssen es sichtbar an der Kleidung tragen. Reichsführer SS Heinrich Himmler hat dies in den so genannten „Polenerlassen“ angeordnet.
Die Bauersleute vom Schattenberghof sind für die Überstellung dankbar. Zur Erntezeit werden fleißige Hände gebraucht. Franz Burgmaier hat eine demokratische Gesinnung, die er nach außen hin tunlichst verbirgt und heißt nach dem Abzug der Braunhemden den jungen Mann willkommen.
Die Regel, dass Zwangsarbeiter ihre Mahlzeiten an einem gesonderten Tisch einzunehmen haben, wischt er mit einem abfälligen Kommentar beiseite. Für ihn und seine Edda gibt es keine Menschen zweiter Klasse, keine Standesunterschiede, keine Diskriminierungen.
Gegessen wird aus einem Topf. Ernst, Adolf und Horst, alles Buben aus dem nahen Erbach, langen kräftig zu. Genau wie die 17 Jahre alte Else Kretschmer. Blond, blauäugig und Tochter der Schneiderin aus Ebersberg. Erntehelfer sind rar geworden. Die jungen Burschen weiden sich an der Schönheit der hübschen Tischgenossin. Auch Krzysztof. Blicke wechseln die Seiten, in den unschuldigen Seelen schmachten zarte Gefühle.
Die Saison nimmt ihren Lauf, die mittäglichen Pausen werden zum Freudenschmaus. Man lacht viel und manchmal grundlos, wie dies junge Menschen gelegentlich zu tun pflegen.
Else aber, so glauben die Dorfbuben, lacht ein klein wenig mehr mit dem Polen als mit ihnen. Eifersucht züngelt auf und erhitzt drei leidenschaftliche Männerherzen.
Am 13. August, einem Mittwoch, erscheint Krzysztof Rudzinski nicht zum Abendessen. Man ruft nach ihm, sucht ihn auf den Feldern und im Dorf. „Heimweh kann in diesen Zeiten tödlich sein!“, sagt Franz Burgmaier. Die Suchmannschaften kehren ohne Ergebnis zurück. Nie wieder hört man etwas vom 19-jährigen Zwangsarbeiter Krzysztof Rudzinski aus Kraszkowice in Polen.
Die Vergangenheit war wiedergekehrt. Leibhaftig lag sie vor ihm. Schon beim ersten Anblick des Astes hatte er eine Vorahnung. Obwohl er es zu ignorieren versuchte, machte ihn dieses Gefühl fast wahnsinnig. Die Stelle hatte er weiter westlich vermutet.
Diese verdammte Uhr. Warum hatten sie ihm die nicht weggenommen? Dass dieser elende Polacke sich überhaupt so etwas leisten konnte? Ja, die Armbanduhr. Die hatten sie damals übersehen. Wahrscheinlich war der Hemdsärmel drübergerutscht.
Horst Kramlich zertrampelte Krzysztof Rudzinskis Unterarmknochen und trat den letzten Zeitzeugen tief in den winterlichen Waldboden hinein. Dann ging er nach Hause.
Er dachte an den Heiligen Abend, an seine geliebte Else und an den 18 Jahre alten Enkel Thomas, der bald seinen Wehrdienst antreten würde. Krzysztof Rudzinski war zum zweiten Mal gestorben.