NEWS

„Leuchtturmprojekt“ Gesundheitsversorgungszentrum krachend gescheitert

695.980 Euro öffentliche Gelder für geplatztes Projekt Ärztehaus aufgewendet + + + Hausarzt steigt aus geplantem Gemeinschaftsprojekt aus + + + Stadtverordnete üben Kritik wegen mangelnder Kommunikation und Intransparenz

OBERZENT. - Das einst als „Leuchtturmprojekt“ gepriesene Gesundheitsversorgungszentrum für die Oberzent in Beerfelden ist krachend gescheitert. Die Scherben des ursprünglich geplanten Projekts kehrte die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Oberzent am Montagabend mühsam zusammen.

Zum guten Schluss votierten die Parlamentarier bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung, jeweils aus den Reihen der SPD-Fraktion, für die zeitlich bis 30.06.2022 begrenzte städtische Kostenübernahme der ursprünglich bis zum Bau eines Ärztehauses als Übergangslösung angemieteten Immobilie für die Ansiedlung von Ärzten am Stadtrand von Beerfelden.

Die Kosten für dieses Engagement belaufen sich wegen weiterer vorzunehmender Ertüchtigungen der Räumlichkeiten und Mieterstattung im laufenden Jahr auf 120.160 Euro und im kommenden Jahr auf 14.000 Euro.

Knapp 700.000 Euro öffentliche Gelder ohne eigene Immobilie

Damit hat das jetzt gescheiterte Projekt an öffentlichen Fördermitteln und städtischen Leistungen insgesamt 695.980 Euro verschlungen.

Demgegenüber steht die Ansiedlung eines Facharztes für Allgemeinmedizin, Notfallmedizin und Ernährungsmedizin, der zum 01. Juli 2018 seine Praxis in den von öffentlichen Mitteln finanzierten Räumlichkeiten eröffnete.

Dessen Praxis wurde zwischenzeitlich zur akademischen Lehrpraxis der Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg akkreditiert. Am 01. September 2020 eröffnete zudem ein Facharzt für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ebenfalls in diesen Räumlichkeiten seine Praxis.

Das ursprünglich konzipierte Projekt mit dem Neubau eines Ärztehauses „sollte eigentlich als Blaupause für weitere Gesundheitsversorgungszentren im gesamten Odenwaldkreis dienen.

Was ist davon geblieben? Vieles ist schief gelaufen, viele Managementfehler wurden gemacht“, kritisierte Horst Kowarsch (GRÜNE) jetzt in einer ernüchternden Bilanz. „Lasst uns aus dem Schlechten noch das Beste machen“, lautete sein Aufruf.

Kritik an Stadtverwaltung und Beratungsagentur

Letztlich waren die Redebeiträge nahezu aller Fraktionssprecher gespickt mit Kritik, die sich vorwiegend gegen das die „Gesundheitsversorgungskooperation Oberzent e.V.“ (GVK) beratende Dienstleistungsunternehmen ASD Concepts GmbH & Co. KG (Reinheim) richtete.

Auch die Stadtverwaltung mit Bürgermeister Christian Kehrer an der Spitze, blieb nicht verschont. So kritisierte SPD-Fraktionschef Thomas Ihrig, der Bürgermeister habe diese wichtige Angelegenheit erst im vergangenen Jahr zur Chefsache erklärt: „Wo war die Verwaltung 2018 und 2019?“

Oliver von Falkenburg (CDU), Chris Poffo (Überparteiliche Wähler), Frank Leutz (FDP) legten alle ebenfalls den Finger in die Wunde des gescheiterten Projekts. Mangelnde Kommunikation und Intransparenz waren die Hauptvorwürfe, die den Protagonisten entgegenschlugen.

Bestrebungen für eigenes Ärztehaus seit 2010

Bereits 2010 waren die damals noch selbständigen Kommunen Beerfelden, Rothenberg, Hesseneck und Sensbachtal bestrebt die Gesundheitsversorgung ihrer Bürger sicherzustellen.

Mehrere Hausärzte hatten zum damaligen Zeitpunkt ihre Praxen entweder schon geschlossen oder standen altersbedingt unmittelbar davor. Diese Entwicklung wollte und musste man stoppen.

In der Beerfeldener Stadtverordnetenversammlung wurden im Dezember 2010 bereits Standorte für ein zu errichtendes Ärztehaus ausgelotet. In der Folge wurden in Kooperation mit dem Odenwaldkreis Daten erhoben und Konzepte erstellt.

Ziel war der Aufbau regionaler gesundheitspolitischen Versorgungsstrukturen

Gemeinsames Ziel war eine bedarfsgerechte Weiterentwicklung der regionalen gesundheitspolitischen Versorgungsstrukturen für alle Kommunen im Odenwaldkreis und insbesondere für die Oberzent.

Im April 2014 erhielt der Odenwaldkreis die Mittelzusage aus dem Landesprogramm „Bildung regionaler Gesundheitsnetze“ für die Gesundheitsversorgung.Alleine in das Projekt Oberzent flossen davon 230.000 Euro. Weitere 50.000 Euro wurden von der Robert-Bosch-Stiftung für das Projekt gewährt.

Auch Fördermittel von 100.000 Euro für „Interkommunale Zusammenarbeit“ erhalten

Im Dezember 2014 unterzeichneten die Bürgermeister der ehemals vier Oberzentkommunen Beerfelden, Rothenberg, Hesseneck und Sensbachtal eine Vereinbarung nach dem Gesetz einer „Kommunalen Arbeitsgemeinschaft für die gemeinsame Durchführung von Aufgaben im Bereich einer sektorenübergreifenden Versorgung durch Beratung, Koordinierung und Planung, insbesondere durch Aufbau eines Gesundheitsversorgungszentrums (GVZ) und dessen Vernetzung“.

Sechs Monate später wurden IKZ-Fördermittel in Höhe von 100.000 Euro bewilligt. Unter Federführung der vier Kommunen wurde am 16.09.2015 der Verein „Gesundheitsversorgungskooperation Oberzent e.V.“ gegründet.

Aufgabe und Zweck waren die Sicherung und Förderung einer wohnortnahen Gesundheitsversorgung, insbesondere im haus-, bzw. fachärztlichen Bereich durch Förderung des Aufbaus zukunftsorientierter größerer Strukturen.

Dienstleistungsvertrag mit ASD Concepts

Die GVK Oberzent schloss einen Dienstleistungsvertrag mit ASD Concepts GmbH & Co. KG. Mitte 2017 wurden in den vier Kommunen Beschlüsse über eine finanzielle Beteiligung zum Aufbau eines GVZ gefasst.

Im November 2017 wurden zwei Flächenkonzepte für einen Neubau präsentiert. Zwischenzeitlich wurden Räumlichkeiten für eine maximal dreijährige Übergangslösung in der Mümlingtalstraße 58 ertüchtigt und dort am 05.03.2018 ein Gesundheitsversorgungszentrum (GVZ) eröffnet.

Kostenzusage für den Bau eines Ärztehauses von einem Stifter

Den kommunalen Gremien wurden im November 2017 zwei Flächenkonzepte für einen Neubau präsentiert. Mitte 2018 führte der gerade gewählte Bürgermeister der neu fusioniertenen Stadt Oberzent, Christian Kehrer, Gespräche mit einem Stifter.

Von diesem gab es bereits eine Zusage zur Kostenübernahme für den Bau eines Ärztehauses in Beerfelden. „Dieser zog sein Angebot jedoch zurück, da dieses Engagement Unzufriedenheit bei anderen Mitbürgern auslöste“, berichtet der Bürgermeister.

Bis dato ergebnislose Gespräche mit Projektentwickler geführt

Mitte März 2019 wurde von allen Interessenten und potenziellen Mietern ein Anforderungsprofil für einen Neubau erstellt. Mit dem Projektentwickler GAB GmbH & Co. KG, Wettenberg, und interessierten Mietern wurden zu Jahresbeginn 2020 Gespräche geführt.

„Es folgten zwei Videokonferenzen, Planunterlagen wurden besprochen und angepasst. Inwieweit der Inventor GAB hier bereits Zusagen der Leistungserbringer hat, ist uns nicht bekannt“, schloss Kehrer eigene bauliche Aktivitäten der Stadt aus Kostengründen völlig aus.

Dreijährige Übergangslösung mit hohem Kostenaufwand

Für die als dreijährige Übergangslösung gedachte Immobilie in der Beerfeldener Mümlingtalstraße schloss die GVK am 27.11.2017 mit dem Hauseigentümer einen Geschäftsraummietvertrag. Für den Betrieb eines GVZ musste ein Brandschutzkonzept erstellt werden. Dies wurde von der GVK Ende 2017 beauftragt.

Das Konzept forderte verschiedene Veränderungen im und am Gebäude. Ein Teil der notwendigen Maßnahmen für die Inbetriebnahme wurde durch die GVK umgesetzt. Zu weiteren baulichen Veränderungen und die entsprechenden Investitionen hätte keine Einigung erzielt werden können, konstatiert der Bürgermeister.

Aufgrund der längerfristig ungeklärten Situation und der Haftung im Schadensfall kündigte der Vermieter den Vertrag mit der GVK zum 31.03.2020.

„Seit Januar 2020 um Lösungen bemüht“

Die Stadt Oberzent habe sich seit Januar 2020 engagiert Lösungen zu finden, sagte Christian Kehrer. Durch diese Intervention war der Weiterbetrieb des GVZ zunächst gesichert.

Im Laufe des vergangenen Jahres hätten sich viele Punkte ergeben, die abgearbeitet worden seien, aber kurze Zeit später wieder aufgrund von Veränderungen und neuen Erkenntnissen (Kaufoption, Infos der GVK) überholt oder hinfällig gewesen seien.

Keine einvernehmliche Lösung für Miet- und Kaufoptionen

Mit dem Vermieter sei verabredet gewesen, dass bis 31.12.2020 eine Lösung vorliegt. Dieses Ziel habe man aufgrund verschiedener Konstellationen, Interessen und insbesondere durch die Vorgeschichte nicht halten können.

Der Vermieter habe am 22.10.2020 angekündigt, den Aufzug stillzulegen. Da es zu keiner Einigung kam, wurde der Aufzug vom Vermieter zum 01.01.2021 stillgelegt. Diesbezüglich sei am 03.12.2020 auch der Ältestenrat der Stadtverordnetenversammlung eingebunden worden, berichtete der Bürgermeister.

Im Magistrat habe man zuvor über Mietoptionen bis hin zur Kaufoption beraten, ohne dass es zu einer einvernehmlichen Lösung mit dem Hauseigentümer gekommen sei.

Praxisfortbestand im Seniorenzentrum Hedwig Henneböhl ab Mitte 2022 gewährleistet

Jetzt stehe Entspannung der Situation in Aussicht, nachdem der Hausarzt den Fortbestand seiner inzwischen rund 1.800 Patienten umfassenden Praxis gewährleistet sieht.

Damit wenigstens diese Praxis der Stadt Oberzent erhalten bleibt, soll sie in dem parallel zum aktuell nicht mehr realistischen Ärztezentrum im derzeit entstehenden Neubau des Arzthauses am Seniorenzentrum Hedwig Henneböhl in Beerfelden weitergeführt werden.

Bis zu dessen Fertigstellung Mitte 2022 soll die derzeit genutzte Immobilie in der Mümlingtalstraße weiterhin als Übergangslösung fungieren und die genannten Kosten zur notwendigen Ertüchtigung nebst anfallender Miete gemäß des jetzt gefassten Beschlusses von der Stadt Oberzenet getragen werden.