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SPD kritisiert Vorgänge scharf: „Missachtung des Parlaments und Vertrauensbruch“

Reichelsheimer Sozialdemokraten kritisieren Bürgermeister Stefan Lopinsky und den Vorsitzenden der Gemeindevertretung Jürgen Göttmann, die heimlich ein doppeltes Spiel treiben sollen + + + Zweites Schreiben an Landesregierung aufgetaucht

REICHELSHEIM. - Die Vorwürfe der SPD-Fraktion an Reichelsheims Bürgermeister Stefan Lopinsky (RWG) und Parlamentsvorsteher Jürgen Göttmann (CDU) waren heftig in der jüngsten Gemeindevertretersitzung am Mittwochabend, und ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Von Missachtung des Parlaments und Vertrauensbruch war die Rede.

Bezug nahmen die Sozialdemokraten auf eine Resolution des Gemeindeparlaments vom 26. Februar dieses Jahres. Darin wurde die Abschaffung der Straßenausbaubeiträge für Bürgerinnen und Bürger gefordert und die Landesregierung zur Gegenfinanzierung aufgefordert, weil „Straßenausbaubeiträge ungleich, unsozial und ungerecht sind“.

„Wir fordern die hessische Landesregierung auf, die Straßenbeiträge komplett abzuschaffen und die Kommunen entsprechend mit den erforderlichen Mitteln auszustatten“, lautete die Forderung der im Parlament mehrheitlich beschlossenen Forderung.

Resolution durch „andere Lösungsansätze“ relativiert

Diese Resolution übersandten der Bürgermeister und der Vorsitzende der Gemeindevertretung per 25.03.2019 an die Hessische Staatskanzlei in Wiesbaden. In einer „Ergänzung zu der Resolution der Gemeindevertretung Reichelsheim“ relativierten Lopinsky und Göttmann jedoch die vom Parlament beschlossene Resolution.

Darin äußerten die beiden „kommunalpolitisch Verantwortlichen“ ihr „Verständnis für das finanzielle Risiko des Landes Hessen im Falle einer generellen Abschaffung der Straßenbeiträge“.

Deshalb könnten sie sich „persönlich, im Rahmen einer Kompromisslösung“ andere „Lösungsansätze vorstellen“. Diese sollten „nur die Abschaffung der Bürgeranteile an den Straßenbeiträgen“ umfassen, den kommunalen Anteil jedoch bei den Gemeinden und Städten belassen.

Ferner sollten die Landeszuschüsse nicht in einem Einmal-Betrag, sondern in mehrjährigen Raten (z.B über 3 Jahre) gezahlt werden, „so dass die Gelder für eine Straßenbaumaßnahme durch die Gemeinde angespart werden, bis der Bürgeranteil auskömmlich ist“.

Opposition sieht sich hintergangen

Dieses unabgestimmte Vorpreschen des Bürgermeisters und des Gemeindevertretervorstehers sehen die Reichelsheimer Sozialdemokraten als absolutes NO GO.

„Was wir erst durch die örtliche Bürgerinitiative zur Abschaffung der Straßenausbaubeiträge erfahren haben ist, dass es ein zweites offizielles Schreiben der Kommune gibt. Ich bin, gelinde gesagt, sprachlos. Zum einen, dass ein solches Schreiben überhaupt existiert, und zum anderen, dass wir darüber keinerlei Kenntnis haben.

Selbstverständlich hätte dieses Schreiben niemals unsere Zustimmung gefunden, verwässert es doch mit dem dort geäußerten Verständnis unsere Resolution, denn wir wollen, dass das Land die Straßenausbaubeiträge komplett abschafft!

Auch wurden die genannten Lösungsansätze hier nicht besprochen oder gar beschlossen. Es gibt keinerlei Legitimation für diesen Anhang. Sollte es sich um ein persönliches Schreiben der beiden Unterzeichner handeln, ist dies nicht klar erkennbar.

Verantwortung für den Haushalt tragen übrigens alle, die hier sitzen“, bezog Cornelia Reinersch für die abwesende SPD-Fraktionsvorsitzende Kirsten Krämer klare Position.

Bürgermeister steht für „Intransparenz und bestenfalls Informationen im Nachgang“

„Dass der Bürgermeister so handelt, passt leider in das Bild dessen, was wir seit Jahren immer wieder erleben: Intransparenz und bestenfalls Informationen im Nachgang, was hier aber auch nicht erfolgt ist.

Dass der Parlamentsvorsteher dies scheinbar mitträgt, enttäuscht mich, denn ihn schätze ich persönlich und in seiner Funktion sehr.

Besonders bedauerlich finde ich die Vorgehensweise auch deshalb, weil wir nur gemeinschaftlich, fraktionsübergreifend unter Einbezug aller Gremien und der Verwaltung einen tragfähigen Plan B im Sinne der Bürgerinnen und Bürger entwickeln müssen, wenn das Land nicht umdenkt. Das neue Programm >Starke Heimat Hessen< wird hierfür nicht ausreichen.

Solche Aktionen wie dieses Schreiben torpedieren eine gute Zusammenarbeit, die hier dringend angezeigt ist.“

„Persönlicher Kompromissvorschlag“ unter offiziellem Gemeindebriefkopf

Bürgermeister Lopinsky bestätigte den Inhalt dieses „Ergänzungsschreibens“, und bezeichnete diesen als „persönlichen Kompromissvorschlag“. Wenn man dreimal eine Absage zur Finanzierung der Straßenausbaubeiträge aus Wiesbaden bekomme „sehe ich es als meine Pflicht an, etwas zu unternehmen, dass unsere Bürger freigestellt und nicht belastet werden“.

Jürgen Göttmann pflichtete dem bei und betonte: „Das war ein Vorschlag von uns.“ Das wiederum sah Klaus Schäfer (SPD) keineswegs so und konterte, das Schreiben sei mit einem offiziellen Briefkopf der Gemeinde versehen und firmiere unter Bürgermeister Stefan Lopinsky und Gemeindevertretervorsteher Jürgen Göttmann.

Auch Parlamentsvorsteher Göttmann unter Beschuss

„Und das geht beim besten Willen nicht, dass man eine mehrheitlich beschlossene Resolution der Gemeindevertretung so untergräbt. Es geht nicht, dass der Vorsitzende unseres Gremiums, der uns alle repräsentiert, einen Beschluss unseres Gremiums unterläuft.“

Von Bürgermeister Lopinsky kenne er das nicht anders, aber das Handeln des Gemeindevertreter-Vorsitzenden Göttmann enttäusche ihn doch maßlos, sagte Schäfer abschließend.

Stefan Lopinsky verteidigt eigenes Vorgehen

Auf FACT-Anfrage äußerte sich Bürgermeister Lopinsky: „Die Kreisversammlung der Odenwälder Bürgermeister gehörte zu den ersten, die bereits Anfang Dezember 2018 die Neuregelung der Erhebung von Straßenbeiträgen in einer Resolution, gleichbedeutend mit der Resolution der Gemeindevertretung von Reichelsheim im März, kritisierten.

Kurze Zeit später erhielten wir von den Landtagsfraktionen der CDU, Bündnis90/Grüne und FDP negative Stellungnahmen, die auf die gestärkte kommunale Selbstverwaltung durch die Kann-Regelung und die widerkehrenden Beiträge hinwiesen.

Diese Stellungnahmen deckten sich mit den Aussagen, die wir vom Innenministerium in einem Brief im Januar 2019 erhielten.

„Damoklesschwert mit bis zu 50.000 Euro Kostenbelastung“

Vor diesem Hintergrund unberücksichtigt blieben die Befürchtungen und Zweifel der von den Straßenbeiträgen unmittelbar betroffenen Bürgerinnen und Bürger im Eberbacher Weg in Reichelsheim. Über ihnen schwebt seit September 2018 das Damoklesschwert mit Kostenbelastung bis zu 50.000 Euro.

Um unseren Bürgerinnen und Bürgern zu helfen und aus der Sackgasse herauszukommen, dass die Landesregierung keine unkalkulierbaren Wechsel auf zukünftige Haushalte ausstellen wird, unterbreiteten Jürgen Göttmann und ich einen persönlichen Kompromissvorschlag, zumal die Abstimmung über die Resolution nicht einstimmig erfolgte. Bürgerinnen und Bürger in Hessen sollten von ihren Ausbaubeiträgen befreit werden.

Dies würde, bezogen auf die bisherige Handhabung, keine Mehrbelastung der kommunalen Haushalte bedeuten, aber gleichzeitig unseren Bürgerinnen und Bürgern die Sorgen nehmen und ihre mögliche Altersabsicherung in Form einer Immobilie gewährleisten.“

Bürgerinitiative wartet noch immer auf zugesagte Lösungen

Vorausgegangen waren monatelange Versuche der Bürgerinitiative „Gemeinsam gegen Straßenbeiträge" in Reichelsheim Lösungen der prekären Situation um drohende, teils horrende Straßenbeiträge herbeizuführen.

Geduldig hatten sich aktive Bürgerinnen und Bürger auf die Zusage ihres Bürgermeisters Stefan Lopinsky verlassen, der ihnen bei ihrer ersten Zusammenkunft am 17. Januar 2019 verkündete, sich für ihre Belange bei der Landesregierung in Wiesbaden einzusetzen.

Start mit einer eiligen Nacht- und Nebelaktion

Begonnen hatten die BI-Aktivitäten nach einer eiligen Aktion der Gemeinde. Nach übereinstimmenden Angaben von Vertretern der Anwohnerschaft des >Eberbacher Weg< wurden sie von der Gemeinde Reichelsheim am 8. September 2018 schriftlich zu einer Informationsveranstaltung eingeladen, die bereits fünf Tage später, nämlich am 13. September stattfinden sollte.

In Anwesenheit von Bürgermeister, Bauamtsleiterin und Mitarbeitern eines Planungsbüros wurden die Anwohner darüber informiert, dass ihr Straßenabschnitt beginnend am 1. Oktober 2018 und bereits zwei Wochen nach der Information saniert werden müsse.

975.000 Euro sollen von 30 Grundstückseignern getragen werden

Die Kosten für den Bauabschnitt würden 1,3 Millionen Euro betragen, von denen die Anwohner 75 Prozent entsprechend 975.000 Euro zu tragen hätten. Die restlichen 25 Prozent würde die Gemeinde übernehmen. Das waren die Informationen im September des vergangenen Jahres.

Betroffen von den Baumaßnahmen sollten im ersten Abschnitt 30 Anlieger sein, die durchschnittlich etwa 32.500 Euro zu tragen hätten. Je nach Grundstücksgröße sollten Kürzungen, aber auch Aufschläge möglich sein.

Unter Hinzurechnung von Kosten für Wasseranschlüsse kamen Anlieger nach eigenen Berechnungen auf bis zu 40.000 Euro Kosten für einzelne Anwesen.

Einer von ihnen wies damals darauf hin, dass von den 30 Hauseigentümern sieben die Häuser erst in den letzten drei bis vier Jahren gekauft hätten und noch mit Umbauarbeiten beschäftigt seien. Darüber hinaus sollen sechs Witwen ihre Häuser allein bewohnen.

Bürgermeister bestreitet die Zahlen in der Presse und nennt aktuell höhere

Bürgermeister Lopinsky bestritt damals diese Zahlen auf Nachfrage einer Anzeigenzeitung und während der Versammlung der BI im Januar. Er erklärte, die Zahlen seien viel zu hoch gegriffen und er würde sich zudem dafür einsetzten, dass die Kosten für die Anlieger niedriger ausfielen.

Im Juni 2019 klingen die Aussagen desselben Bürgermeisters ganz anders. In einem Gespräch mit der FACT-Redaktion bezeichnete der die zu erhebenden Kosten Ende Mai 2019 für einzelne Anlieger mit bis 44.000 Euro, am 3. Juni bereits konkretisierte er diese Aussage schriftlich mit „bis zu 50.000 Euro“.

Mitglieder der Bürgerinitiative „schwer erschüttert“

Die BI >Gemeinsam gegen Straßenbeiträge< ist schwer erschüttert. Bei durch die Straßenausbaubeiträge besonders hart getroffenen Anliegern stellten sich erste psychische Beschwerden ein. Zumal sie sich von ihren Gemeindeoberen hinters Licht geführt fühlen.

Sie glauben inzwischen, dass sie so lange vertröstet werden sollen, bis vollendete Tatsachen geschaffen wurden und die ersten Rechnungen ins Haus flattern. Die BI hat bereits mehr als 1.100 Unterschriften für ihre Aktion gesammelt.

Beginnend am kommenden Samstag wollen sie eine Plakat- und Gelbwesten-Aktion vor einen Reichelsheimer Supermarkt durchführen, die sich an den langen Donnerstagen vor dem Reichelsheimer Rathaus fortsetzen soll.