Standortmarketingaffäre: Amtsgericht Michelstadt müht sich, altbekannte Tatsachen festzustellen
Beim Strafprozess gegen den früheren Odenwälder Landrat Dietrich Kübler ist auch nach drei Verhandlungstagen noch kein Ende in Sicht, weil einige Zeugen ein sehr lückenhaftes Gedächtnis offenbaren + + + Dabei wurde die Angelegenheit schon 2014 in einem Akteneinsichtsausschuss des Odenwälder Kreistages mit teilweise aufschlussreichen Erkenntnissen behandeltODENWALDKREIS / MICHELSTADT. - Dem Vorsitzenden Richter der Strafkammer des Michelstädter Schöffengerichts ist Respekt zu zollen. Schritt für Schritt legt er die Schichten der Affäre um das Odenwälder Standortmarketing frei und nähert sich zielstrebig deren kompletter Aufarbeitung.
Dennoch sind die zunächst anberaumten drei Verhandlungstage bereits Geschichte, und noch ist nicht abzusehen, um wie viele Tage verlängert werden muss.
Leicht wird ihm die Arbeit nicht gemacht. Die Erinnerung der Zeugen lässt in entscheidenden Phasen zu wünschen übrig, fast alle Fortschritte in der Aufarbeitung des Skandals resultieren aus akribischem Aktenstudium des Amtsrichters Helmut Schmied.
Dabei könnte er es leichter haben. In den Jahren 2013 und 2014 tagte dreimal ein Akteneinsichtsausschuss (AEA) des Odenwälder Kreistags zur Affäre Standortmarketing. Wer damals gut zugehört hat oder in den hoffentlich existierenden Protokollen der drei Sitzungen nachschlagen kann, ist in der Lage, die wichtigsten noch offenen prozessentscheidenden Fragen aufzuklären. Warum liegen diese Protokolle dem Gericht nicht vor?
Da geht es zunächst um Klärung der Frage, ob der Kreisausschuss vor seiner entscheidenden Sitzung die juristischen Warnungen des Kreis-Rechtsamts kannte oder nicht. Dazu geben Mitschriften der damals anwesenden Journalisten eine eindeutige Antwort.
Während der zweiten Sitzung des AEA am 15. Januar 2014 stellte der Ausschussvorsitzende Günter Verst (SPD) fest: „Jedenfalls haben auch die relativierenden Schreiben des Rechtsamts (Anmerkung der Redaktion: bei der Kreisausschusssitzung am 10.2.2012) nicht vorgelegen. Sie haben erstens nicht vorgelegen, aber wenn Kumpf das alles mündlich vorgetragen haben will, es fehlt alles im Protokoll völlig.“
Daraufhin erklärte der Hauptabteilungsleiter Oliver Kumpf ausweislich des AEA-Protokolls, sein „Gutachten“ habe er erst nach der Sitzung vom 10.02.2012 (Anmerkung d. Redaktion: entscheidende Auftragsvergabesitzung) verfasst, nachdem er mehrfach gefragt worden sei.
Wenn jetzt also durch die aktuelle Vorlage des Protokolls der Kreisausschusssitzung vom 10. Februar 2012 durch die enthaltene Angabe „Tischvorlage“ (die selbst übrigens fehlte) der Eindruck erweckt werden sollte, diese Tischvorlage „Gutachten Kumpf“ habe den Kreisausschussmitgliedern vor oder während ihrer entscheidenden Sitzung vorgelegen, so kann es sich vermutlich nur um eine nachträgliche sehr fragwürdige „Anreicherung“ des Protokolls handeln.
In dieser „Tischvorlage“ führt Oliver Kumpf am Ende des einseitigen Dokuments aus: „Nach Abwägung dieser Umstände kommt der Unterzeichner zu dem Ergebnis, dass der Präsentationstermin (1.12.2011) als Abgabetermin für das vollständige Konzept angesehen werden kann und somit alle vier Bewerber ihre Konzepte fristgerecht eingereicht haben.“ Mit blauer Schrift i.A. unterschrieben mit Oliver Kumpf, Hauptabteilungsleiter. Das Rechtsgutachten eines Nicht-Juristen.
Der noch brisantere Teil dieser „Tischvorlage“ befindet sich jedoch an deren Anfang. Dort schreibt Kumpf: Das Rechtsamt des Odenwaldkreises hat mit Schreiben vom 12.12.2011 und 14.12.2011 festgestellt, dass die Unterlagen der Agentur Lebensform nicht vollständig eingereicht wurden.
Das Rechtsamt legte hierbei zu Grunde, dass in einer Email von Frau Seubert, OREG, vom 26.10.2011, der Abgabetermin auf den 22.11.2011 – 16 Uhr terminiert wurde. Weiterhin stellt das Rechtsamt fest, dass die Unterlagen der Agentur Lebensform nach wie vor nicht schriftlich vorliegen.
Ein rückdatiertes „Gutachten“?
Zu diesem Text stellt sich automatisch die entscheidende Frage: Wenn der Kreisausschuss (KA), was wahrscheinlich ist, die Schreiben des Rechtsamts nicht kannte, macht die Kenntnisnahme der Kumpf-Stellungnahme auch keinen Sinn, denn darin wird auf die beiden ersten Warnschreiben der Rechtsabteilung aus Dezember 2011 deutlich Bezug genommen.
Entweder hat dann nämlich im KA niemand aufgepasst und nachgefragt, oder das Kumpf-„Gutachten“ wurde eben nicht vorgelegt sondern später rückdatiert, was sogar seine eigene Aussage im AEA am 15.1.2014 nahelegt.
Dubios wirkt in diesem Zusammenhang ein Punkt im so genannten „chronologischen Ablauf“, der einer am 21. Oktober 2013 verschickten Einladung zum AEA am 15. Januar 2014 beigefügt war:
10.02.2012 „Mündliche Unterrichtung des Kreisausschusses zur unklaren Bewerbungsfrist der zweiten Ausschreibungsphase und Darlegung der Auffassung der Hauptabteilung I hierzu, wonach der Präsentationstermin, 01.12.1012 (Anmerkung d. Redaktion: soll sicher 2011 lauten), als Bewerbungsfrist (Vorlagetermin der vollständigen Unterlagen) anzusehen ist.“
Damit sollte suggeriert werden, dass vielleicht mündlich ein Teil der Kumpf–Auffassung im KA angesprochen wurde, dann aber ohne Erwähnung der beiden Schreiben des Rechtsamts. Das wurde mittlerweile von einer Reihe Zeugen bestätigt.
Am 12. Februar 2014 fand die dritte und letzte Sitzung des AEA statt. Die Presse-Mitschrift erlaubt wieder einen direkten Einblick in die Vorgänge und entbehrt nicht einer gewissen Komik. Der FDP-Politiker Moritz Promny stellte fest, es sei unglaublich, wie mit den Abgeordneten umgesprungen worden sei.
Es sei schier unglaublich, wie der Ablauf im AEA vor sich gehe. Der Verwaltung sei nicht zu trauen, sie gebe nur Unterlagen heraus, von denen man wisse und nach denen gefragt werde. Woher sollten die Abgeordneten wissen, welche Unterlagen noch existierten.
Der ÜWG-Fraktionsvorsitzende Reinhold Ruhr antworte laut Protokoll: „Diese unbewiesenen Behauptungen weise ich entschieden zurück. Außerdem lächeln Sie blöde.“
Landrat Dietrich Kübler sprang ihm zur Seite: „Die Vorwürfe treffen nicht zu. Alle Unterlagen, die von interessierter Seite anonym an die Presse geschickt wurden, sind dann auch von uns veröffentlicht worden.“ Ein entlarvender Satz.