Im Schulterschluss gegen Vereinsamung
Mediziner und Pfarrerin im FachvortragBEERFELDEN. - Gemeinsam gegen einsam! Wie kann man dieser positiven Parole, die sich drei lokale Selbsthilfegruppen, die Stadt Erbach und der Odenwaldkreis zum Motto eines Vortrags auserkoren haben, gerecht werden?
Für fachliche Aufklärung und einen individuellen Blick auf die Einsamkeit, verbunden mit möglichen Strategien zu deren Bewältigung, sorgten kürzlich in der vollbesetzten alten Turnhalle von Beerfelden der Psychiater Dr. Gerhard Bittenbring und die evangelische Pfarrerin Sabine Färber-Awischus.
Denn Einsamkeit ist eine Volkskrankheit mit immensen Auswirkungen. Sie belastet Seele und Körper. Oft verliert man die Kontrolle und den sozialen Umgang miteinander.
Betroffene sind in jeder Altersgruppe, allen sozialen Schichten und in sämtlichen Berufen zu finden. Begünstigt wird Einsamkeit durch veränderte Arbeitsbedingungen im Home-Office, bei Alleinlebenden und durch die überbordende Nutzung sozialer Medien. Bedingt durch Corona finden sich viele Menschen nach der Pandemie in einer langfristigen sozialen Isolation wieder.
Sogar in der Ehe und in Familien fühlen sich manche Menschen oft einsam. Unerwünschte Begleiter sind eine tiefe Traurigkeit, große Not und eine peinliche Scham. Einsam sein wird ängstlich verschwiegen, oftmals überspielt, schwer ausgehalten und schmerzhaft durchlitten.
„Auf diese Thematik stößt man immer öfter, ob im Fernsehen, in der Zeitung, im privaten Bereich und auch immer häufiger in der Arztpraxis“, konstatierte der Mediziner Bittenbring.
Sobald sie den Einzelnen seelisch stark beeinträchtige und ihn in seiner Lebensführung einschränke, bestehe Hilfsbedarf. Aufmerksam solle man werden, wenn sich Nachbarn plötzlich zurückzögen oder längere Zeit nicht gesehen würden.
„Auch wenn es Überwindung kostet, darf man mal anklopfen und nachschauen. Nicht selten habe ich schon böse Überraschungen erlebt.“ Dem pflichtete auch Martina Thoms vom sozial-psychiatrischen Dienst des Odenwaldkreises bei und ermutigte dazu, sich intensiver umeinander zu kümmern.
Leider sei man an bestimmten Endpunkten, wie dem Tod, öfter einsam. Häufig jedoch habe man die Chance, aktiv etwas gegen Einsamkeit unternehmen zu können.
Hier unterschied der Mediziner bewusst zwischen der aktiv gewählten und gewollten Einsamkeit, die jedem Individuum zustehe, und der unfreiwilligen Vereinsamung durch das Fehlen sozialer Kontakte.
Bewusst sprach der Psychiater auch Einsamkeitssituationen in Beziehungen und durch die Auswirkungen von Corona an. Drückten die Probleme zu sehr, sei der Besuch einer Selbsthilfegruppe ein erster Schritt:
„Wohl dem, der die richtigen Freunde und Bekannte hat, die einem helfen. Für die einen ist es der Verein, für die anderen vielleicht die Kirche.“
Auch kritische Worte fand der Facharzt: „Der leidende Patient will gesund werden und der Doktor sucht nach Krankheiten. Manchmal reden die beiden völlig isoliert aneinander vorbei. Ein klassisches Beispiel für Gemeinsamkeit ist das nicht.“
Um eine gute Beziehung ohne Einsamkeit zu erzielen, müsse man Brücken zum anderen schlagen. Abschließend erinnerte Bittenbring an den stockenden Aufbau einer regional angedachten sozial-psychiatrischen Initiative, die man aktiv voranbringen möge.
„Einsamkeit ist keine Krankheit, sondern eine typische Trenddiagnose“, zitierte Pfarrerin Färber-Awischus und führte hierzu Beispiele an.
Dabei legte sie allerdings Wert auf die Unterscheidung zwischen dem unverfänglichen Alleinsein, das befreiend oder inspirierend sein kann und dem Druck der oftmals belastenden, manifesten Einsamkeit.
Diese berge die Gefahr einer erhöhten Selbstmordrate im Alter. „Das Thema muss uns alle beschäftigen. Einsamkeit ist ein Gefühl. Man ist auf sich selbst zurückgeworfen. Sie kann positive Seiten haben, aber auch krank machen, wenn sie zu sozialer Isolation führt.“
Man müsse als Gesellschaft den einsamen Menschen ein Angebot machen, sonst kämen sie nicht aus dem Teufelskreis heraus, meinte eine Zuhörerin.
Deshalb möchte Sabine Färber-Awischus in der Kantine des Erbacher Gesundheitszentrums in Form eines offenen Babbel-Tisches einmal wöchentlich die Kommunikation untereinander anregen: „Wir müssen wieder mehr ins Reden kommen und aufeinander zugehen.“
Mitgenommen haben die Gäste des Vortrags viele Anregungen, um sich intensiver mit der Thematik zu beschäftigen. „Ein allgemeingültiges Patentrezept gegen Einsamkeit gibt es allerdings nicht“, sagte Gerhard Bittenbring gegen Ende der Veranstaltung.
Moderiert hat diese Holger Leitermann, Sprecher der Selbsthilfegruppe Semikolon, die im Schulterschluss mit der Stadt Erbach, dem Odenwaldkreis, der Selbsthilfegruppe Angst-Panik-Depression sowie der Selbsthilfegruppe des Odenwälder Kreisverbands des Deutschen Roten Kreuzes und der Naturheilpraxis Heike Waldvogel selbige ins Leben gerufen hat.