Einmal im Jahr zurĂĽck bis ins 18. Jahrhundert
Regelmäßig prüft das Landratsamt die Jüdischen Friedhöfe im KreisODENWALDKREIS. - Michael Alt erkennt rasch, worauf es ankommt. Sein geübter Blick schweift über Jahrzehnte bis Jahrhunderte alte Grabsteine genauso wie über dicke Friedhofsmauern und hohe Bäume. Droht ein Ast herabzufallen und Gräber oder deren Besucher zu treffen?
Sind die Mauern oder andere Friedhofsbegrenzungen, Zäune etwa oder Hecken, schadhaft? Stehen die Grabsteine fest oder sind sie locker, umgefallen gar? Gibt es andere Mängel? Sonstige Vorkommnisse?
Diese fünf Fragen stellt Michael Alt an diesem Vormittag fünf Mal – auf jedem Jüdischen Friedhof, den es im Odenwaldkreis gibt. Alt arbeitet in der Abteilung Öffentliche Sicherheit und Ordnung im Landratsamt, einmal jährlich begutachtet er gemeinsam mit Hauptabteilungsleiterin Sarina Hildmann den Zustand der Gräberfelder.
„Dazu sind wir aufgrund landesrechtlicher Vorgaben verpflichtet“, erläutert Hildmann. Auch sie nimmt den Zustand der Friedhöfe und insbesondere der Grabsteine unter die Lupe und bittet Alt beispielsweise festzuhalten, welche zu reinigen sind.
Für sie ist die 80 Kilometer lange Rundfahrt aber nicht nur eine Pflichtaufgabe: „Der Termin ist in jedem Jahr immer wieder etwas Besonderes. Man wird Zeuge der Vergangenheit und gleichzeitig ermöglicht einem die Lage einzelner Friedhöfe einen unvergesslichen Blick auf die Landschaften im Odenwaldkreis.“
Bei ihren Besuchen treffen Hildmann und Alt auf Verantwortliche der jeweiligen Kommunen und besprechen mit ihnen fällige Arbeiten, was sie später auch noch einmal schriftlich bekommen. „Entweder erhalte dann ich eine Rückmeldung über erledigte Aufgaben oder ich erinnere die Kommunen noch einmal daran“, sagt Alt.
Spätestens ein Jahr später kann er bei seinem nächsten Kontrollbesuch sehen, ob die Kommunen allen Pflichten nachgekommen sind. „Der Aufgabe, die Friedhöfe in einem ordentlichen Zustand zu erhalten, kommt die Kreisverwaltung nicht nur nach, weil sie es muss“, hebt Landrat Frank Matiaske hervor. „Die Grabstätten zeugen von der langen jüdischen Geschichte des Odenwaldkreises. Es ist wichtig, sie im Gedächtnis zu halten.“
Die Friedhöfe gehören dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Hessen. Für die Pflege kommt der Staat auf. Der Bund stellt den Ländern dafür Geld zur Verfügung. Müssen zum Beispiel Grabsteine wieder aufgestellt werden, kann die jeweilige Stadt oder Gemeinde die Kosten beim für sie zuständigen Regierungspräsidium geltend machen. In Hessen gibt es nach Angaben des Landesverbands rund 350 Jüdische Friedhöfe.
Der bekannteste der fünf im Odenwaldkreis dürfte der in Michelstadt sein, der um das Jahr 1700 angelegt wurde. Dort befindet sich nämlich das Grab des „Baal Schem“, des als wundertätig verehrten Michelstädter Rabbiners Seckel Löb Wormser, der von 1768 bis 1847 lebte. Bis heute besuchen Gläubige sein Grab und legen, wie es Brauch ist, einen Stein auf ihm nieder.
Zwischen ihnen finden sich zahlreiche Zettel mit Wünschen und Anliegen. Das Grab des Baal Schem liegt am Fuß eines waldigen Hangs, in dem sich noch viele andere Gräber befinden. Manche Grabsteine müssen wieder aufgerichtet werden, wie Hildmann und Alt bei ihrem Rundgang feststellen.
Neben diesem Teil des Friedhofs hat die Stadt Michelstadt ein Grundstück für ein neues Gräberfeld erstanden. Dort ruhen bereits zwei Ehepaare, die jüngste Bestattung fand im vergangenen Jahr statt.
Dieses Gräberfeld ist der einzige jüdische Friedhof im Odenwaldkreis, auf dem auch heute noch Bestattungen stattfinden. So gesehen, schließt sich ein historischer Kreis: Bevor es die vier anderen im heutigen Kreisgebiet gelegenen Grabstätten gab, war der Michelstädter Friedhof ebenfalls die einzige Begräbnisstätte in der Gegend.
Der Friedhof in Reichelsheim wurde um das Jahr 1851 angelegt. Nicht in einem Wald, sondern auf einer Kuppe gelegen, können Besucher in die Ferne schauen. 220 Grabstellen gibt es dort, die Gemeinde hat alle hebräischen Inschriften übersetzen lassen, was nicht zuletzt dem Engagement des früheren Bürgermeisters Gerd Lode zu verdanken ist. „Um das Jahr 1870 gab es 40 jüdische Familien in Reichelsheim“, sagt er. Auf dem Friedhof wurden aber auch Verstorbene aus Fränkisch-Crumbach und Pfaffen-Beerfurth beigesetzt.
Ein Gedenkstein erinnert an die durch die Nationalsozialisten ermordeten Juden aus den drei Kommunen.
Im Juni dieses Jahres hat die Gemeinde wieder Juden eingeladen, die einst in Reichelsheim gelebt haben. Gemeinsam mit Angehörigen haben sie sich auf dem Friedhof zu einer Gedenkfeier versammelt, wie Lode schildert.
Der Besuch stand auch im Zeichen der Einweihung der Reichelsheimer Synagoge durch Seckel Löb Wormser vor 200 Jahren. An dem Haus, das heute an ihrer Stelle steht, wurde eine Gedenktafel enthüllt, die auch an die Schändung der Synagoge in der Pogromnacht von 1938 erinnert.
Auf ihrem Rundgang über den Reichelsheimer Friedhof haben Hildmann und Alt nichts zu bemängeln – außer drei großen, verdorrten Ästen, die von einem Baum herüberragen, der auf einem Nachbargrundstück steht. „Diese Äste müssen dringend weg“, befindet Alt und schreibt es in sein Besuchsprotokoll. Der Leiter des Bauhofs, der bei dem Besuch dabei ist, will sich bald an die Arbeit machen.
Auch in den zwei kleineren, am Waldrand gelegenen Friedhöfen in Höchst (angelegt Ende des 19. Jahrhunderts) und in Beerfelden (eingeweiht 1928) macht sich Alt Notizen, vor allem zu Ausbesserungsarbeiten und zur Reinigung von Grabsteinen.
Besonders nimmt er abermals die Bäume in Augenschein. Am kürzesten ist der Besuch in Bad König, denn der Jüdische Friedhof dort ist mit sieben Gräbern der kleinste. Er befindet sich direkt neben dem städtischen Friedhof und wurde 1925 angelegt. Die letzte Beisetzung fand dort 1939 statt.
Nach etwa dreieinhalb Stunden ist die Rundfahrt beendet. Hildmann ist auch dieses Mal zufrieden: „Der Termin lohnt sich immer, denn regelmäßig ist etwas zu tun beziehungsweise in die Wege zu leiten.“ Im August 2018 werden sie und Alt sich wieder auf den Weg machen – mit fünf Fragen zu fünf Friedhöfen.