Antisemitismus und Rassenwahn prägten das Leben
Als letzter Zeitzeuge verstarb Lothar Wassum im Alter von 96 JahrenMICHELSTADT. - Am Dienstag dieser Woche verstarb Lothar Wassum im Alter von 96 Jahren als letzter örtlicher Zeitzeuge eines Lebens, das durch Hitlers Antisemitismus und Rassenwahn geprägt war.
Seine aus einer jüdischen Familie in Hamburg stammende und konvertierte Mutter gehörte in Michelstadt zur evangelischen Kirchengemeinde. Sie war während des ersten Weltkriegs Krankenschwester und hat für ihre Pflichterfüllung hohe Auszeichnungen erhalten.
Trotzdem wurde sie nach Auschwitz deportiert und 1943 umgebracht. Fortan musste Sohn Lothar um sein eigenes Leben bangen und sich mit allerlei Beschäftigungen „für Halbjuden“ über Wasser halten.
Nach Kriegsende machte Lothar eine Schreinerlehre und engagierte sich im Radsport mit Kunstradfahren und Radball. Bei den Stadion-Radrennen trat er mit anderen Vereinskameraden gegen die Brüder Altig an. Auch beim Training nahm er als Aktiver und als Prüfer teil.
Das Leid, das man der eigenen Familie zugefügt hatte, weckte das Interesse an der deutschen Nachkriegspolitik und am Umgang mit der vergangenen Nazidiktatur. Bereits 1993 nahm Wassum, vom Botschafter des Staates Israel eingeladen, an der Feierstunde zur Ehrung des Ehepaars List aus Ernsbach teil.
Als von November 2015 bis Februar 2016 die Ausstellung >Legalisierter Raub, Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden in Hessen 1933-1945< in Michelstadt Station machte, kam es im Finanzamt zu einer Begegnung mit Finanzminister Thomas Schäfer.
Dieser übergab Lothar Wassum eine Urkunde, in der es hieß, die nationalsozialistische Rechtsauffassung sei beendet und der Staat gebe ihm seine Möbel zurück. Von nun an konnte Lothar wieder im eigenen Bett schlafen.
Bis ins hohe Alter war er bereit, vor Schülern über die Widrigkeiten der eigenen Jugend zu sprechen. Noch im November 2019 begleitete er die Schüler des Gymnasiums, die einen Erinnerungstag an die „Pogromnacht“ gestalteten.
Trotz aller Widrigkeiten ist Lothar Wassum ein heiterer und geselliger Mensch geblieben. Er liebte Späße und Wortspiele. Noch an seinem 96. Geburtstag antwortete er Besuchern aus Michelstadt, die den schönen Ausblick aus seinem Pflegeheim-Fenster in Beerfelden zur Sensbacher Höhe bewunderten: „Die Aussicht ist schön, aber man weiß nicht, wie die Aussichten sind.“
Auf seinem Nachttisch lagen die Fotoalben mit den Bildern seiner Stammtischfreunde der Runde „Locker-flockig“ vom Gasthaus „Zum Wilden Mann“. Die Aufnahmen von den vielen Ausflügen und geselligen Treffen brachten ihm an diesem Tag noch einmal etwas Heiterkeit und Zufriedenheit. Er verstarb am 6. Juni.