Plötzlich Herrin über die eigene Zeit
Wie Annerose Beisel nach Jahrzehnten im Beruf den Ruhestands-Einstieg meistertODENWALDKREIS / ERBACH / FALKEN-GESĂ„SS. - Ein Chef ist immer so gut wie sein Vorzimmer.
So gesehen hatten die Landräte Horst Schnur, Dietrich Kübler und Frank Matiaske großes Glück mit Annerose Beisel, die unzählige Termine organisiert und vorbereitet, Telefonate geführt und Briefe geschrieben hat – um nur einige Beispiele zu nennen.
Gut 21 Jahre war sie Chefsekretärin. Das prägt: „Ich habe viel gelernt und denke gerne an diese Zeit zurück.“
Insgesamt hat sie sogar 44 Jahre im Landratsamt gearbeitet: 1975 war sie – nach einer Ausbildung zur Industriekauffrau in einem Unternehmen in Beerfelden – zur Fahrerlaubnisbehörde gekommen.
Alles in allem kann die in Falken-Gesäß aufgewachsene Frau also auf eine 47 Jahre währende Berufstätigkeit zurückblicken. Eine stolze Leistung.
Seit Beginn dieses Jahres ist sie im Ruhestand, von ihren Kolleginnen und Kollegen hatte sie sich schon einige Wochen davor verabschiedet – es gab noch genug Urlaubstage und Überstunden.
Plötzlich Herrin über die eigene Zeit zu sein, war anfangs gar nicht so einfach für die Dreiundsechzigjährige: „Nicht mehr arbeiten zu müssen, bedeutet eine ziemlich große Umstellung.“
Gut zwei Monate hat es gedauert, bis sie sich zugestand, sich für das, was sie tut, wirklich Zeit lassen zu können und einen inneren Druck loszuwerden, der immer noch da war.
„Ich musste ein neues Zeitgefühl entwickeln, das ich aus dem mir bekannten Rhythmus zwischen Werktagen und Wochenende oder zwischen Arbeitszeit und Urlaub nicht kannte.“
Diesen Umstieg hat sie gut gemeistert – was auch daran liegt, dass sie nicht in das sprichwörtliche „Loch“ gefallen ist, das jene Ruheständler kennen, die sich vor allem über ihre Arbeit definiert haben.
Das hat Annerose Beisel nie, auch wenn sie ihren Beruf sehr ernst nahm. „Ich konnte mich immer auf sie verlassen und habe ihr Organisationstalent und ihre Diskretion sowie ihre mitunter bestimmte, aber stets freundliche, lebensfrohe Art sehr geschätzt“, sagte Landrat Frank Matiaske, ihr letzter Dienstherr, bei der Abschiedsfeier.
„Wer keine Hobbies hat, sollte sich für den Ruhestand eines suchen“, mahnt sie. „Sonst könnte die viele Zeit zu einer Qual werden.“ Andere Ratschläge will sie aber nicht geben.
„Dazu sind die Lebenssituationen viel zu unterschiedlich.“ Annerose Beisel weiß mit der Zeit, die sie jetzt hat, jedenfalls viel anzufangen.
Seien es Ausflüge mit ihrem Mann, der auch Ruheständler ist und mit dem sie viele Interessen teilt. Sei es, dass sie etwas alleine unternimmt, sich um ihre Eltern kümmert oder ehrenamtlich tätig ist.
So spielt sie alle zwei Wochen gemeinsam mit ihrem 87 Jahre alten Vater in der Beerfeldener Seniorenresidenz Hedwig Henneböhl Steierische Harmonika, abwechselnd in einer Sing-Stunde und einer kirchlichen Andacht.
„Die Bewohnerinnen und Bewohner freuen sich unglaublich, wenn sie ihnen bekannte Lieder singen können.“ Außerdem bietet sie einmal in der Woche in Falken-Gesäß einen Gymnastikkurs an.
Das hat sie zwar auch schon während ihrer Berufstätigkeit gemacht, nun muss sie ihn aber nicht mehr absagen, weil kein Abendtermin im Landratsamt mehr dazwischenkommen kann.
Annerose Beisel hat nach wie vor gerne mit Menschen zu tun. Ihre Kontaktfreude konnte sie schon früh schulen: Ihre Eltern hatten in Falken-Gesäß ein Gasthaus mit Pension, so dass sie schon als Kind mit den verschiedensten Menschen zusammenkam.
Nach der Mittleren Reife – einem Schulabschluss, der für Frauen ihrer Generation und ihres Wohnorts selten war, wie sie sagt – machte sie zunächst die Ausbildung, ging dann aber ins Landratsamt.
Es ist wohl ihrem tatkräftigen Einsatz als Helferin beim Hessentag 1998 in Erbach zu verdanken, dass Landrat Schnur auf sie aufmerksam wurde und sie in sein Vorzimmer holte – zu Ute Naas, die schon dort saß und heute die Kulturmanagerin des Kreises ist.
Schnur war zur Verabschiedung von Annerose Beisel ebenso gekommen wie sein Nachfolger Dietrich Kübler und viele Kolleginnen und Kollegen aus der Verkehrsbehörde, dem Personalamt und natürlich aus der Abteilung, zu der Beisel zum Schluss gehörte.
Wer heute, Wochen nach dem Abschied, mit ihr spricht, kann noch etwas Wichtiges für den Übergang in den Ruhestand lernen: einen gesunden Abstand zum Job zu entwickeln. „Ich weiß meine frühere Stelle in guten Händen“, sagt Annerose Beisel. „Das reicht mir.“