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Bergsträsser Anti-Atom-Initiativen: „Verharmlosung war oberstes Ziel“

AK.W.Ende und Atomerbe Biblis e. V.: Auch 36 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl droht noch Gefahr vom zerstörten AKW

BERGSTRASSE. - Ausgerechnet ein Sicherheitstest führte in Tschernobyl zur Katastrophe“, schreiben die Bergsträsser Anti-Atom-Initiativen AK.W.Ende und „Atomerbe Biblis“ e. V. in einer gemeinsamen Pressemitteilung zum 36. Jahrestag des Super-GAUs im damals sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl.

Die beiden Sprecher Rainer Scheffler (Lautertal) und Volker Ahlers (Heppenheim) fassen die Ereignisse zusammen:

„In den frühen Morgenstunden des 26. April 1986 wollten Techniker Turbinentests bei noch laufenden Reaktoren im AKW Tschernobyl durchführen. Dazu wurde das automatische Steuerungssystem und die Notkühlung stillgelegt. Kurz darauf geriet der Reaktor 4 außer Kontrolle.

Der Reaktorkern konnte nicht mehr gekühlt werden. Bei Temperaturen von 1.300 Grad C reagierte das Zirkonium der Brennstoffhüllen mit Wasser. Durch Bildung von Wasserstoff kam es zu einer Explosion, die den 1.000 Tonnen schweren Deckel durch das Dach schleuderte.

Über 1.500 Tonnen Graphit im Reaktor fingen sofort Feuer, dessen Feuersturm durch seinen Kamineffekt das radioaktive Inventar kilometerhoch in die Atmosphäre schleuderte, wo starker Wind für eine weiträumige Verteilung des Fallouts sorgte.“

Wie Scheffler und Ahlers weiter schreiben, griff das Feuer auch auf den Reaktorblock 3 über und konnte erst nach 14 Tagen eingedämmt werden, nachdem Feuerwehrleute, Bauarbeiter und Soldaten – sogenannte „Liquidatoren“ – etwa 5.000 Tonnen Sand, Blei und Bor in den Reaktor kippten.

In den Wochen danach wurden Tausende Soldaten zwangsrekrutiert und bei Dekontaminierungsarbeiten mit völlig unzureichender Ausrüstung eingesetzt. Wie Volker Ahlers („Atomerbe Biblis“) betont, „starben über 30 >Liquidatoren< bereits unmittelbar nach den Arbeiten.

Über die Gesamtzahl der Erkrankten, Toten und auch durch Spätfolgen geschädigten Opfer herrscht bis heute Unklarheit, weil es eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung der Folgen durch die sowjetischen Behörden nie gab.

Allerdings stiegen u. a. in Weißrussland und in der Ukraine schon drei Jahre nach der Katastrophe die Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern stark an.“

AK.W.Ende-Sprecher Rainer Scheffler ergänzt: „Erst am Abend des 26. April 1986 bestätigte die sowjetische Nachrichtenagentur TASS die Kernschmelze in einer dürren sechszeiligen Meldung.

Erste Warnungen vor erhöhter Radioaktivität kamen aus Schweden. Nach dem Super-GAU zogen mehrere Wolken von radioaktivem Cäsium und Jod aus Tschernobyl über Europa:

Die erste nach Norden über Polen und Skandinavien, die zweite nach Westen über die damalige Tschechoslowakei und Österreich bis Deutschland, die dritte nach Süden Richtung Rumänien, Bulgarien sowie nach Griechenland und Türkei.

Während in der Bundesrepublik die Medien im Gegensatz zu den politisch Verantwortlichen schnell ausführlich über die Gefahren berichteten, wurde die Katastrophe in DDR-Zeitungen nur am Rande erwähnt.“

Für Scheffler deckt sich dieses Verhalten mit Dokumenten aus dem Archiv des sowjetischen Geheimdienstes KGB, die der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU 2020 veröffentlichte.

„Nach der Katastrophe startete der KGB eine regelrechte Vertuschungsoffensive, um >verleumderische Hirngespinste< und das Durchsickern von Informationen in den Westen zu verhindern. Verharmlosung war oberstes Ziel.“

Wie lange der radioaktive Fallout anhält, zeige u. a. die Tatsache, dass auch über 30 Jahre nach dem Unglück Waldböden, Pflanzen und Wildtiere im Bayerischen Wald und südlich der Donau belastet seien, so Ahlers und Scheffler.

Und: „Der russische Angriffskrieg in der Ukraine birgt auch für Tschernobyl neue Gefahren. Zwar ist der 1986 zerstörte Block 4 mit einer gewaltigen Dachkonstruktion überdeckt, die vor Radioaktivität schützen soll, aber Granaten- und Raketenbeschuß nicht standhalten dürfte.

Augenzeugen berichten zudem über Transporte russischer Soldaten aus der Region, die sich offenbar aus Unkenntnis ungeschützt im sogenannten >roten Wald< aufgehalten haben sollen, einem auch heute noch stark kontaminierten Waldgebiet nahe Tschernobyl.“