Tag der Arbeit: Plädoyer „Solidarität ist Zukunft“ als Weg aus der Krise
Mehrere Redebeiträge bei Kundgebung des DGB Bergstraße mit rund 80 TeilnehmernBERGSTRASSE / HEPPENHEIM. - Am 1. Mai, dem internationalen Tag der Arbeiterbewegung, hat der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) wieder deutschlandweit viele bunte und einfallsreiche Veranstaltungen sowie einen Livestream durchgeführt.
Der DGB-Kreisverband Bergstraße rief zu einer Kundgebung am Bahnhofsvorplatz in Heppenheim auf.
Dabei konnte auch gezeigt werden, wie durch größtmögliche Sorgfaltspflicht das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit und friedlichen Protest trotz der Corona-Pandemie wahrgenommen werden kann: Die Ordner achteten auf die Einhaltung eines vom DGB selbst bestimmten, über die Auflagen hinausgehenden Hygienekonzepts.
Zentrale Themen waren die Pandemie und das Plädoyer für Solidarität als Weg aus der Krise, die nicht nur gesundheitliche, sondern für viele Menschen auch soziale und ökonomische Folgen habe, so der DGB-Kreisvorsitzende Sven Wingerter.
„Solidarität ist für uns kein Fremdwort, sondern als zentrales Element der Demokratie gelebter Alltag. Wir wollen eine bessere, sozialere und gerechtere Gesellschaft, in der nicht der Markt, sondern der Mensch im Mittelpunkt steht“.
Gerade in der Corona-Zeit werde deutlich, wie wertvoll die gegenseitige Unterstützung unter den Menschen sei.
Der Vorsitzende des Viernheimer DGB-Ortsverbandes, Nils Burkhoff, führte durch das Programm. Der 32jährige, der als Bildungsreferent des DGB Bergstraße dem Kreisvorstand angehört, betonte in seiner Begrüßung das souveräne und zielgerichtete Handeln der Gewerkschaften seit Beginn der Pandemie. „Das Schlimmste konnten wir verhindern“, sagte Burkhoff.
Er wies darauf hin, dass es besonders die berufstätigen Frauen seien, die Solidarität verdienen. Weil Frauen hauptsächlich in den Branchen arbeiten, in denen Homeoffice ein Fremdwort ist, stehe „Gleichstellung oben auf der Agenda“ des DGB.
Deshalb müsse es ein dringendes Anliegen sein, die Gleichstellung von Frauen voranzutreiben und Benachteiligungen damit abzubauen. Burkhoff verlas überdies ein Grußwort der CGT Grand Est, der französischen Partnergewerkschaft des DGB Bergstraße.
Der DGB-Kreisvorsitzende Sven Wingerter wies darauf hin, wie wichtig es in der Krise sei, „dass Gewerkschaft funktioniert“. Die Krise sei von Beginn an missbraucht worden, um Arbeitnehmerrechte und etablierte Standards wie Tariflöhne wieder einzuschränken oder gar abzuschaffen.
Gleichzeitig habe die Umverteilung von unten nach oben dramatisch zugenommen. Gründe genug, um dies als DGB in der Öffentlichkeit anzuprangern und sich mit den Betroffenen solidarisch zu zeigen.
Das Instrument der Kurzarbeit, mit der sechs Millionen Beschäftigten geholfen werden konnte, biete zwar ein Stück Sicherheit, sei aber kein universales Allheilmittel.
„Die Kurzarbeit erreicht nicht jeden, und sie reicht nicht aus für jeden“, so Wingerter, der auch als SPD-Kandidat für das Bundestags-Direktmandat im Wahlkreis Bergstraße antritt.
Die Krise wirke wie ein Brandbeschleuniger und habe dazu geführt, dass wieder deutlich mehr Menschen am Arbeitsmarkt abgehängt wurden.
Das Problem zeige sich besonders bei den atypischen Beschäftigungsformen wie Teilzeitarbeit oder befristete Jobs, oft prekäre Arbeit im Niedriglohnsektor.
Dessen Existenz sei in einem der reichsten Länder Europas sowieso ein Skandal, so Wingerter. „Wir reden hier über Jobs, die eben nicht gesichert sind, für die es keine Kurzarbeit gibt, die von heute auf morgen sehr schnell wegfallen können“.
So ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen Prozent wieder über die Millionenmarke gestiegen, 42 Prozent mehr als vor einem Jahr. Zudem sind über 400.000 Mini-Jobs in der Krise weggefallen.
Es sei traurig, so der 40jähriger Gewerkschaftler aus Wald-Michelbach, dass erst der Skandal um den Schlachthofbetreiber Tönnies die Aufmerksamkeit auf menschenunwürdige Arbeitsverhältnisse wie Leiharbeit und Werkverträge gelenkt habe.
Auch der Mangel an Pflegekräften in Krankenhäusern und Heimen trete erst jetzt in seinem ganzen Ausmaß zutage. Für Wingerter die fatale Folge eines jahrzehntelangen Sparkurses zulasten der Menschen.
Gerade im Gesundheitsbereich seien die „Folgen einer neoliberalen Abrisspolitik“ deutlich erkennbar geworden. „In vielen Fällen fehlt das Personal.
Das ist das Ergebnis einer Politik, bei der nicht der Mensch, sondern die Gewinne und die Raffgier in den Mittelpunkt gestellt werden“, verdeutlichte Wingerter und forderte einen Umbau des Gesundheitswesens, in dem die Gesundheit selbst ins Zentrum gerückt wird, nicht die blanken Zahlen in den Bilanzen.
Insgesamt sieht Wingerter die Beschäftigten im Gesundheitswesen „am Limit“. Vor diesem Hintergrund ordnete der Kreisvorsitzende auch den öffentlichen Applaus für die sogenannten „Corona-Helden“ aus dem Pflegebereich und dem Einzelhandel ein, der längst wieder abgeklungen sei.
Die Beschäftigten hätten mehr verdient als Applaus von Balkonen, denn der mache nicht satt und bezahle keine Miete. „Diese Kollegen verdienen dauerhaft echten Respekt und echte Wertschätzung, bessere Bezahlung und faire Arbeitsbedingungen. Um dies zu erreichen, sind starke Gewerkschaften und gute Tarifverträge nötig“, so der DGB-Vorsitzende.
Gerade in den systemrelevanten Berufsfeldern seien ungleich mehr Arbeitnehmer von Altersarmut betroffen. Frauen seien dabei noch stärker gefährdet als Männer, weil viele in Erziehungsberufen arbeiten und durch die Schließung von Kitas und Betreuungseinrichtungen hohe finanzielle Einbußen verzeichneten.
Hinzu kommen die schon vor Corona markanten Verdienstunterschiede zwischen den Geschlechtern. Der Gender Pay Gap, also die Differenz des durchschnittlichen Bruttostundenverdienstes, rangiere derzeit bei 19 Prozent.
„Wir kämpfen so lange für gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit, bis die Lohnlücke bei null liegt“, so Sven Wingerter vor großem Applaus.
Horst Raupp, Regionssekretär des DGB Südhessen, warnte in Heppenheim vor einer sozialen Spaltung. Die Pandemie treffe vor allem die Schwächsten der Gesellschaft.
Die Schlucht zwischen einer Handvoll Superreicher und dem Rest der Welt sei seit Beginn der globalen Krise noch tiefer geworden. „Die acht reichsten Menschen besitzen so viel wie 3,8 Milliarden andere.“
Hinzu komme, dass viele Großkonzerne kaum noch Steuern zahlten, obwohl sie riesige Gewinne erzielten. Dadurch seien dem Fiskus in der vergangenen Dekade rund 300 Milliarden Euro verlorengegangen.
Darunter litten unter anderem der Bildungsbereich und das Gesundheitswesen. Der Gewerkschafter fordert, dass Vermögen von Privatpersonen und Konzernen, die von der Krise teils noch profitieren, an der Finanzierung der wirtschaftlichen Folgen stärker beteiligt werden. Von der Politik erhofft sich Raupp eine faire Lastenverteilung der Corona-Kosten.
Im Superwahljahr 2021 habe der Deutsche Gewerkschaftsbund deshalb neue Vorschläge für mehr Steuergerechtigkeit vorgestellt. Kleine und mittlere Einkommen, gut 95 Prozent aller Haushalte, sollen steuerlich entlastet und gleichzeitig die Einnahmebasis des Staates gestärkt werden.
Vermögenssteuern, Abgaben auf Spekulationsgewinne und hohe Erbschaften seien notwendig. „Steuern sind zum Steuern da“, brachte es Raupp auf den Punkt.
Sven Wingerter und Horst Raupp machten beide deutlich, dass Corona auf vielerlei Ebenen die Schwächen des Systems offengelegt habe. Allgemein müsse der Staat massiv in eine gute öffentliche Infrastruktur und in das entsprechende Personal investieren. Das sei ein wichtiger Schritt aus der Krise.
Musikalisch umrahmt wurde die Kundgebung von der Band „Stir It Up“ mit Tommy Woller, Gerd Müller und Miles Wroblewski aus Bensheim.