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„Es ist wichtig, den Alltag möglichst positiv zu gestalten“

Prof. Dr. Philipp A. Thomann, Chefarzt des Zentrums für Seelische Gesundheit am Gesundheitszentrum Odenwaldkreis in Erbach. Foto: privat

Prof. Dr. Philipp A. Thomann, Chefarzt des Zentrums für Seelische Gesundheit in Erbach, über psychische Stabilität in der Krise

ODENWALDKREIS / ERBACH. - Das Zentrum für Seelische Gesundheit gehört zum Gesundheitszentrum Odenwaldkreis. Prof. Dr. Philipp A. Thomann, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, ist seit April 2017 Chefarzt des Zentrums. Er äußert sich im Interview über psychische Stabilität in der Krise:

Wir leben in einer verunsichernden Krisenzeit. Was können wir für das psychische Gleichgewicht tun?

Zunächst einmal ist es wichtig, sich nicht gegen negative Gefühle stemmen zu wollen, sondern diese als solche anzuerkennen. Sorgen, Stress und ein Gefühl der Überforderung sind in der derzeitigen Situation als normal-psychologische Reaktionen zu verstehen und haben sicherlich keinen unmittelbaren Krankheitswert.

Was empfehlen Sie noch?

In einer Krisensituation ist es besonders wichtig und hilfreich, den Alltag möglichst positiv zu gestalten und positive Gefühle zu stärken.

Auch wenn die derzeitige Situation mit einem gewohnten Tagesablauf kaum noch etwas zu tun hat, so ist es sinnvoll und wichtig, wenn möglich bestimmte tägliche Routineabläufe aufrecht zu erhalten.

Dies können zum Beispiel feste Zeiten für Schlaf und Mahlzeiten sein. Darüber hinaus sollte man aktuell besonders darauf achten, Aktivitäten in den Alltag zu integrieren, die das seelische und auch körperliche Wohlbefinden nachweislich stärken können.

Zum Beispiel?

Dies kann das Hören schöner Musik sein, ein Anruf bei Freunden oder Angehörigen, das Zubereiten gesunder Mahlzeiten, körperliche Bewegung oder jedwede andere Aktivität, die einem guttut. Schädliche Strategien zur Gefühlsregulation, wie der Konsum von Alkohol oder anderen Substanzen, sollten vermieden werden.

An Nachrichten über die Krise kommt man so gut wie gar nicht vorbei.

Das stimmt. Deswegen ist es empfehlenswert, bei der Informationsbeschaffung auf vertrauenswürdige Quellen zu achten, um sich vor irreführender Fehlinformation zu schützen, die ihrerseits Sorgen verstärken und unnötige Ängste schüren können.

Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch regelmäßige Informationspausen, um abzuschalten und sich stattdessen auf den Alltag und die Lebensbereiche zu konzentrieren, die man selbst beeinflussen kann.

Was tun Sie selbst?

Regelmäßige sportliche Aktivität an der frischen Luft oder auch in den eigenen vier Wänden ist seit Jahren fester Bestandteil meines Alltags.

Auch bei ausgeprägter Arbeitsbelastung habe ich mir eine – wenn auch nur kurze – sportliche Aktivität mindestens jeden zweiten Tag zur Regel gemacht, weil ich den Ausgleich benötige und weil ich weiß, wie gut mir das tut.

Menschen werden einsamer, weil Besuche nicht mehr möglich sind. Vor allem alte und kranke Menschen. Natürlich kann man telefonieren oder über digitale Medien kommunizieren. Das ersetzt aber den persönlichen Kontakt nicht, oder?

Es ist richtig, dass der Kontakt über digitale Medien den direkten persönlichen Kontakt nicht vollständig ersetzen kann. Dies gilt insbesondere für Aspekte wie körperliche Nähe oder das Gefühl von Geborgenheit.

Wichtig ist aber auch zu betonen, dass jeder noch so kurze Telefonkontakt viel besser ist als gar kein Kontakt. Jeder Kontakt vermittelt die Botschaft, in der Krise nicht allein zu sein, und Gespräche mit Nahestehenden über Sorgen und Gefühle in der aktuellen Krisensituation können enorm entlasten.

Außerordentlich sinnvoll und hilfreich ist das Angebot der Übernahme von Einkäufen oder Besorgungen für zum Beispiel ältere Nachbarn, wie das glücklicherweise vielerorts praktiziert wird.

Sie sind Chefarzt des Zentrums für Seelische Gesundheit am Gesundheitszentrum Odenwaldkreis. Welche Folgen hat die Corona-Krise für Ihre tägliche Arbeit, für Ihre Patientinnen und Patienten?

Zunächst einmal ergaben sich aus der Umsetzung der Beschlüsse der Bundes- und Landesregierung einschneidende Veränderungen der Organisation und der Arbeitsabläufe in unserer Klinik.

Die Tagesklinik wurde bereits in der vergangenen Woche geschlossen. Im stationären Bereich beschränken wir uns vorwiegend auf Notfallaufnahmen. Die Patienten unserer Ambulanz werden vornehmlich telefonisch behandelt.

Teambesprechungen und Konferenzen finden – wenn überhaupt – dann nur in sehr eingeschränkter Gruppengröße statt. Darüber hinaus gilt auch in der psychiatrischen Abteilung ein Besuchsverbot. Ausgänge sind nur noch zum unmittelbaren Selbstverpflegungszweck möglich.

Sie mussten die Arbeitsweise in ihrem Zentrum vollständig umstellen.

Allerdings. Die genannten, ohne Frage sinnvollen und notwendigen Maßnahmen stellen das Behandlungsteam, Patienten wie auch Angehörige vor mitunter große Herausforderungen, erschweren die Umsetzung unseres in vielen Fällen auch auf Gruppentherapie ausgelegten Behandlungskonzeptes und damit auch den Genesungsprozess auf Seiten der Patientinnen und Patienten.

Auf der anderen Seite können wir mit Personal, das bei uns frei wird, andere Abteilungen des Krankenhauses unterstützen.

Mittlerweile wird vor Gefahren häuslicher Gewalt gewarnt, die durch das engere Zusammenleben von Menschen entstehen kann. Teilen Sie diese Befürchtung?

Leider ja. Differenzierte Expertise fehlt mir in diesem Themengebiet, aber ich vertraue auf die Einschätzung, die von Wissenschaftlern wie auch diversen Opferverbänden meines Wissens einstimmig geteilt wird.

Konfliktforscher konnten mehrfach belegen, dass eine Einengung der Freiheit, mangelnde Distanzierungsmöglichkeit und allgemeine Überforderung Aggressionen schüren können, die sich häufig gegen Schwächere richten.

Was raten Sie?

Ein besonders niederschwelliges Schutzangebot beziehungsweise entsprechende Anlaufstellen für Betroffene müssen aufrechterhalten, im Idealfall ausgebaut werden.

Nicht nur einzelne und Familien werden auf die Probe gestellt in diesen Wochen, sondern die ganze Gesellschaft. Wo sehen Sie Hoffnungszeichen?

Mir macht vor allem die wachsende Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft Hoffnung. Einzelne zeigen sie, indem sie zum Beispiel für andere einkaufen, aber auch etliche Unternehmen tun etwas, um Menschen zu unterstützen.

Nicht zuletzt wird viel Zeit und Know-how in die Forschung gesteckt, um ein Medikament beziehungsweise einen Impfstoff gegen das Virus zu entwickeln.

Das Gespräch führte Stefan Toepfer von der Pressestelle des Odenwaldkreises