Wahrnehmungsverschiebung
SERIE, Teil 9: Monika Wagner beobachtete das Berufungsverfahren vom 07. November 2023 bis 20. Februar 2024 vor dem Landgericht Mannheim gegen eine Weinheimer Ärztin und deren Praxisangestellte wegen des Verdachts auf Ausstellung unrichtiger GesundheitszeugnisseHeute berichten wir in unserer Serie von Tag 9 der Berufungsverhandlung, 24. Januar 2024.
Teil 1 ist nachzulesen unter: http://www.de-fakt.de/deutschland/details/?tx_ttnews
Als ich gegen 08:45 Uhr das Gericht erreiche herrscht bereits Massenandrang. Heute beginnen die Sicherheitschecks wieder im Glaskasten. Mit zwei uniformierten Beamtinnen plus zwei uniformierten Beamten nebst zwei kleinen Tischen ist der Windfang nach meinen Geschmack bereits überfüllt - auch ohne Zuschauer.
Es hilft nicht, ich muss warten bis ich an die Reihe komme und werfe schon mal einen besorgten Blick durch die Glasscheiben in Richtung Schließfächer. 22 von 24 sind bereits belegt. Der Beamte fragt, wo ich denn hin möchte, ich benenne die Verhandlung.
Ich soll ihm meinen Mantel und meine Handtasche zur Durchsuchung übergeben und mich zwecks Leibesvisitation breitbeinig, rücklings vor die Beamtin stellen, die mich dann auch von oben bis unten gründlichst abtastet.
Auffällig viel Presse im Foyer
Die Abtastung ergab nichts, die Durchsuchung von Handtasche und Mantel förderte auch keine unerlaubten Gegenstände zu Tage, also weiter geht's. Ich eile sofort zum Schließfach um das vorletzte, freie Fach zu belegen.
Es ist auffällig viel Presse im Foyer. Das Publikum ist in Bezug auf Alter und Ethnie sehr gemischt. Die Schlange vor dem Sicherheitscheck zu Saal 1 und Saal 2 bereits extrem lang, so dass ich befürchte gar nicht mehr in den Sitzungssaal hineinzukommen.
Egal, zuerst muss ich nochmal auf Toilette, auch dort herrscht bereits großer Andrang. Hier erfahre ich die Ursache des Massenauflaufs: Parallel zu dem Maskenprozess findet heute die Verhandlung gegen zwei Polizeibeamte statt. Tatvorwurf: „Körperverletzung mit Todesfolge“. Auch für die Prozessbeobachter dieses Verfahrens gelten die verschärften Sicherheitsvorkehrungen.
Es geht nichts vorwärts
Ich stelle mich an der Schlange an und warte. Es geht nichts vorwärts. Gleich mehrere Pressevertreter sind nicht bereit sich den Sicherheitsmaßnahmen zu unterziehen. Und dass sie ihr Equipment nicht mitnehmen dürfen, sehen sie nun mal gar nicht ein.
Ein Kameramann mit einer riesigen, schweren Schulterkamera steht bereits an der Seite und wartet. Eine junge Journalistin mit nordeuropäischem Akzent diskutiert aufgebracht mit den Beamten. Diese beharren auf ihren Anweisungen.
Auch Journalisten mit Presseausweis dürfen ihr Handy nicht mitnehmen
Weitere Beamte schalten sich in die Diskussion ein: Nein, auch als Journalistin mit Presseausweis darf sie ihr Handy nicht mitnehmen. Ja aber..., ihr Kollege sei ja auch durchgekommen. Die Beamten suchen sofort nach dem Kollegen. Er ist bereits hinter dem Metalldetektor aber noch nicht im Saal.
Es klärt sich, dass er sein Handy bereits weggeschlossen hat und sie möge dies bitte auch tun. Zähneknirschend verlässt sie die Schlange. Es ist bereits 09 Uhr.
Plötzlich werde ich von der Seite angesprochen. Eine weitere Prozessbeobachterin, die regelmäßig den Maskenprozess verfolgt, möchte wissen, ob ich ein Schließfach habe, da alle belegt sind.
Ich gebe ihr meinen Schlüssel, kann aber nicht garantieren, dass ihre Tasche noch hineinpasst. Es klappt. Wieder bin ich in der Schlange ein paar Schritte weiter.
Plötzlich sucht die Mitarbeiterin von Dr. Jiang händeringend jemand mit Schließfach, um ihr Handy wegzuschließen. Schwierig. Ich gebe ihr den Schlüssel. Am Ende teilen sich fünf Prozessbeobachter ein Schließfach.
Prozessverlegung in kleineren Saal 2
Das ist auch nur möglich, da wir uns inzwischen kennen, mit Unbekannten hätte ich das Fach nicht geteilt. Endlich komme ich an die Reihe. Fotografieren des Ausweises. Durchleuchtung. Metalldetektor. Abtasten.
Gewohnheitsmäßig will ich in Saal 1, die Beamtin weist mich darauf hin dass der Maskenprozess heute in Saal 2 stattfindet. Saal 2 ist erheblich kleiner als Saal 1, die Prozessbeteiligten sitzen spiegelverkehrt.
Auf die Reservierung von Sitzreihen für die Presse wurde verzichtet. 09:25 Uhr die Verhandlung beginnt. Auch die Schöffinnen sitzen heute in spiegelverkehrter Reihenfolge – irgendwie irritiert mich das.
Die Staatsanwaltschaft wird heute erstmalig von einem dunkelhaarigen, äußerst jung aussehenden Mann vertreten, der dem Publikum nicht namentlich vorgestellt wird.
Die 12. Kleine Strafkammer wird durch den Vorsitzenden Richter Dr. Christian Hirsch, sowie die Schöffinnen Jachin und Boaz vertreten. Dr. Jiang befindet sich in Begleitung ihrer Wahlverteidiger Rechtsanwalt Künnemann, Rechtsanwalt Lausen und Rechtsanwalt Willanzheimer.
Rechtsanwalt Künnemann erklärt zu dem abgelehnten Beweisantrag den Experten aus Österreich als Gutachter einzubringen, er habe diesen nicht erneut geladen. Ebenfalls abgelehnt wurde der Beweisantrag Herrn Kisielinski als Gutachter einzubringen.
In diesem Fall möchte die Verteidigung die weitere Entwicklung des Verfahrens abwarten, um gegebenenfalls diesen erneut per Selbstladeverfahren einzubestellen. Außerdem möchte Rechtsanwalt Künnemann wissen, warum wieder so viel Polizeibeamte im Haus sind.
Rechtsanwalt Lausen stellt seine Standardfrage: „Gab es Störungen bei der letzten Sitzung?“ Der Richter verneint. ...und ewig grüßt..., Rechtsanwalt Lausen stellt einen Antrag auf Aufhebung der sicherheitspolizeilichen Maßnahmen, diese seien unverhältnismäßig und nicht geeignet etwaige Störungen zu verhindern.
„Namenloser“ Staatsanwalt
Der „namenlose“ Staatsanwalt tritt diesem Antrag entgegen. Dr. Hirsch verfügt: Die sicherheitspolizeiliche Anordnung vom 13. Oktober 2023 bleibt aufrecht erhalten. Rechtsanwalt Lausen beantragt hierzu eine gerichtliche Entscheidung.
Dr. Hirsch fragt den Staatsanwalt (immer noch ohne Nennung eines Namens, was ich etwas merkwürdig finde), ob er hierzu eine Erklärung abgeben möchte - will er nicht.
Die Sitzung wird unterbrochen, das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Es ergeht folgender Beschluss: Die Verfügung wird bestätigt, die Durchführung der sicherheitspolizeilichen Anordnung ist aus Sicht der Kammer nach wie vor erforderlich.
09:35 Uhr kommt ein Pressevertreter der Alternativen Medien in den Saal, der Lokalreporter der Weinheimer Nachrichten ist heute nicht da. Der Pressevertreter entschuldigt sich - es war kein Schließfach mehr frei. Das Publikum schmunzelt. Dr. Hirsch nimmt es kommentarlos zur Kenntnis.
Rechtsanwalt Lausen widerspricht erneut dem Einscannen der Ausweise. Das Verhalten der Zuschauer kann nicht auf das Scannen der Ausweise zurückgeführt werden.
Hierbei handelt es sich nicht um eine spezifische Maßnahme zur Sicherung der Ordnung, sondern um eine bloße Behauptung, die nach seiner Auffassung unzulässig ist. Er möchte eine Unterbrechung der Sitzung damit die Verteidiger ihr weiteres Vorgehen in dieser Frage abstimmen können.
Rechtsanwalt Willanzheimer sieht in der Begründung des Gerichts einen Zirkelschluss. Es gab bis dato keine Störung. Die Begründung zieht nur dann, wenn mindestens ein Tag ohne sicherheitspolizeiliche Anordnung durchgeführt worden wäre und dieser Tag zu einer Störung geführt hätte.
Rechtsanwalt Künnemann stellt heute den Befangenheitsantrag
Der Staatsanwalt tritt dieser Erklärung entgegen, er hält die Maßnahmen für gerechtfertigt. Die Sitzung wird unterbrochen, die Kammer zieht sich zur Beratung zurück. Beschluss der Kammer: „Die Gegenvorstellung der Verteidiger kann die Sichtweise der Kammer nicht abwenden, die Anordnung bleibt, da diese aus Sicht der Kammer verhältnismäßig ist.“
...same procedure as last time, ... heute stellt Rechtsanwalt Künnemann den Befangenheitsantrag und bittet um eine ausreichende Frist zur schriftlichen Begründung. Über diese Frist möchte Dr. Hirsch später entscheiden.
Die Rechtsanwälte Künnemann und Lausen geben zu diesem Zeitpunkt keine weiteren Erklärungen ab, da es kurz vor 10 Uhr ist und die Zeugin R. um 10 Uhr gehört werden soll. Die Verhandlung wird erneut für wenige Minuten unterbrochen.
Karlsruher Sicherheitskräfte unterstützen Mannheimer Kollegen
Rechtsanwalt Willanzheimer soll Dr. Hirsch die Begründung seines neuen Beweisantrags schriftlich zusenden, „da es leichter ist wenn die Prozessbeteiligten während des mündlichen Vortrags mitlesen können“.
In der kurzen Pause erfahren die Zuschauer, dass die Mannheimer Sicherheitskräfte heute Unterstützung aus Karlsruhe erhalten haben. Es scheint weder alltäglich noch ungewöhnlich zu sein Sicherheitskräfte quer durch's Ländle zu verschicken.
Dass er hier mehr oder weniger einen „Senioren-Club“ bewachen soll, das erstaunt den Beamten dann doch. Immerhin wurde die nahezu 1:1 Betreuung an den ersten Verhandlungstagen gewaltig reduziert. Zwei bis drei Beamte im Saal reichen nun aus um die potentiell renitenten Senioren im Griff zu halten (Ironie aus).
Erstermittelnde Staatsanwältin R. erscheint als Zeugin vor Gericht
10:00 Uhr, die Zeugin R. wird aufgerufen. Statt der Zeugin öffnet eine Justizbeamtin die Tür und erklärt die Zeugin sei anwesend, stecke aber noch in der Einlasskontrolle fest. Der Vorsitzende Richter stellt fest: „Die Zeugin ist hier, sie wurde über Gerichtsvollzieher geladen. Sie ist der Ladung gefolgt und pünktlich vor Gericht erschienen.“
Eine junge, dunkel gekleidete Frau mit rötlichem, pfiffigem Haarschnitt betritt den Saal. Die Formalitäten werden abgearbeitet, eine Aussagegenehmigung liegt vor. Die Staatsanwältin fühlt sich in der ihr zugedachten Zeugenrolle sichtlich unwohl.
Der von der Verteidigung gestellte Beweisantrag dient der Klärung der Frage: Warum die Ermittlungen wieder aufgenommen wurden, die die Zeugin zuvor einstellen wollte?
Es steht die Vermutung im Raum, dass der Kammeranwalt Jürgen Gremmelmaier Druck auf die Zeugin ausübte, um eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens zu verhindern. Die Sitzung wird bis 10:30 Uhr unterbrochen, die Kammer zieht sich zurück, um über diesen Beweisantrag zu beraten.
Beweisantrag zur Vernehmung der Staatsanwältin R. wird abgelehnt
10:30 Uhr, der Vorsitzende Richter der 12. Kleinen Strafkammer verkündet folgenden Beschluss: „Der von Rechtsanwalt Willanzheimer gestellte Beweisantrag auf Vernehmung der Staatsanwältin Frau R. als Zeugin wird abgelehnt. Die Tatsachen die mittels des Beweisantrags hervorgebracht werden sollen stehen in keinem Zusammenhang mit der Urteilsfindung.“
Rechtsanwalt Willanzheimer stellt einen neuen Beweisantrag. Dass der Leitende Oberstaatsanwalt Jürgen Gremmelmaier ein Vorgesetzter von Staatsanwältin R. ist, ist nun einmal eine Tatsache.
Nach Einschätzung der Verteidigung traute sich Frau R. nicht entgegen dem Willen von Oberstaatsanwalt Gremmelmaier bei ihrer eigenen Einschätzung der Sachlage und der daraus resultierenden Entscheidung zu bleiben.
Der (immer noch namenlose) Staatsanwalt lehnt den neuen Beweisantrag ab. Er sieht keinen Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass der Leitende Oberstaatsanwalt Gremmelmaier der Vorgesetzte der Staatsanwältin Frau R. ist und der Urteilsfindung. Der Beweisantrag diene nicht der Aufklärungspflicht.
Junge Mutter im Zeugenstuhl wirkt gleichermaßen sehr sympathisch wie unsicher
Dr. Hirsch unterbricht um 10:40 Uhr erneut die Verhandlung. Bis 11 Uhr zieht sich die Kammer zur Beratung zurück. Auf dem Zeugenstuhl sitzt eine junge Mutter die gleichermaßen sehr sympathisch wie unsicher wirkt.
Dr. Hirsch verkündet folgenden Beschluss: Der Beweisantrag von Rechtsanwalt Willanzheimer wird abgelehnt. Ob sich Frau R. getraut habe gegen den Oberstaatsanwalt zu handeln, spiele für die Urteilsfindung keine Rolle.
Rechtsanwalt Lausen liest eine Gegendarstellung vor und zitiert aus einem Lehrbuch bzgl. des angeblich fehlenden Sachzusammenhangs gemäß § 245, Abs.3 StPO. Rechtsanwalt Willanzheimer verweist ebenfalls auf einen Lehrbuch-Kommentar zum fehlenden Sachzusammenhang. Dr. Hirsch fragt den Staatsanwalt, ob er auch eine Erklärung abgeben möchte - will er nicht.
Die Sitzung wird erneut unterbrochen, die Kammer zieht sich zur Beratung zurück. Die Zeugin sitzt hilflos auf ihrem Stuhl und wartet. Es ergeht folgender Beschluss: Auch die Gegenvorstellung der Verteidigung wird abgelehnt. Die (noch am Zeugentisch sitzende) Staatsanwältin Frau R. wird nicht als Zeugin vernommen.
Rechtsanwalt Willanzheimer legt mit weiterem Beweisantrag nach und scheitert erneut
Rechtsanwalt Willanzheimer legt mit einem weiteren Beweisantrag nach: „Das Tatbestandsmerkmal der Behörde ist nicht proklamiert, die Staatsanwältin Frau R. ist zu vernehmen im Hinblick auf § 278 StGB in seiner alten Fassung.
Herr B., von der Polizei, hatte wohl Bedenken gegenüber der vermeintlichen Strafbarkeit der Handlungen von Dr. Jiang reagierte aber nicht. Dr. Jiang durfte weiter gewähren, die Staatsanwältin R. ließ die Ärztin nicht festnehmen.“
Der Staatsanwalt tritt dem Beweisantrag entgegen. Zu der Reaktion des Polizeibeamten B. auf die im Raum stehenden „falschen Atteste“ und einer möglichen eben nicht statt gefundenen Gefahrenabwehr sagt er – nichts. Die Sitzung wird erneut für 15 Minuten unterbrochen, die Kammer zieht sich zur Beratung zurück.
Die Zeugin sitzt immer noch auf ihrem Platz. Beschluss der Kammer: Die neuen Beweisanträge werden abgelehnt. „Das Tun der Angeklagten wurde von der Staatsanwältin R. nicht unterbunden.“ Rechtsanwalt Willanzheimer hält dagegen, Zitat: „Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals hat nichts mit dem Urteil zu tun.“ Rechtsanwalt Lausen verweist auf den vorher zitierten Kommentar, dieser legt weiter aus, ohne Tatbestand kein Verfahren.
Strafkammer lehnt die Beweisanträge weiterhin ab
Dr. Hirsch fragt den Staatsanwalt ob er auch etwas erklären möchte - will er nicht. Die Sitzung wird erneut für 5 Minuten unterbrochen, die Kammer zieht sich zur Beratung zurück. Beschluss: Die Strafkammer lehnt die Beweisanträge weiterhin ab.
(In diesen fünf Minuten kam die Kammer nicht nur zu einem Beratungsergebnis sondern schaffte es auch selbiges schriftlich zu begründen. Die Begründung wird vorgelesen, die Kopien an die Prozessbeteiligten verteilt. Respekt! - und Ungläubigkeit im Publikum, dass dies binnen 5 Minuten alles möglich ist).
...same procedure..., Rechtsanwalt Künnemann stellt einen Befangenheitsantrag gegen die komplette Kammer mit der Bitte um eine angemessene Frist zur schriftlichen Begründung. Außerdem spricht sich die Verteidigung gegen die Entlassung von Frau R. aus dem Zeugenstand aus. Auch zu diesem Punkt wird der Staatsanwalt gefragt ob er sich äußern möchte - will er nicht.
Rechtsanwalt Künnemann stellt einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 235a StPO. Die Sitzung wird unterbrochen, die Kammer zieht sich zur Beratung zurück.
Die Zeugin R. sitzt noch immer am Zeugentisch. Beschluss der Kammer: Die Zeugin wird entlassen, nachdem die Kammer sämtliche Gründe für eine Einvernahme als Zeugin abgelehnt hat. Die Zeugin, Staatsanwältin R. nimmt ihre Tasche und geht.
Sitzungspolizeiliche Anordnung erneut beanstandet
Rechtsanwalt Lausen beanstandet erneut die sitzungspolizeiliche Anordnung: Da heute alle Ausweise für den Sitzungssaal 1 und für den Sitzungssaal 2 gemeinsam erfasst werden. Bei der Erfassung der Ausweise ist also völlig unklar, ob ein potentieller Störer sich auf den Weg in Saal 1 oder Saal 2 macht. Damit stehen alle Zuschauer unter Generalverdacht.
Die Prozessbeobachter müssten zumindest getrennt kontrolliert werden, um hier die Übersicht zu behalten. Rechtsanwalt Willanzheimer kündigt gleich drei neue Beweisanträge an. Dr. Hirsch unterbricht die Sitzung zwecks Mittagspause bis 13:15 Uhr.
„Können nicht nachvollziehen, warum anwesende Zeugen nicht befragt werden“
Heute gehe ich mit drei weiteren Prozessbeobachtern zum Mittagessen in die Innenstadt. Thema der Unterhaltung ist natürlich die Nichtbefragung der Zeugen Oberstaatsanwalt Gremmelmaier und Staatsanwältin R.. Wir können nicht wirklich nachvollziehen, warum die anwesenden Zeugen nicht befragt werden.
Bei der Angestellten von Dr. Jiang war die Sache klar - solange die Angelegenheit nicht in trockenen Tüchern ist könnte sie sich theoretisch belasten, aber zwei Staatsanwälte?
Einerseits hat der Vorsitzende Richter die junge Staatsanwältin davor bewahrt gegen ihren Vorgesetzten aussagen zu müssen, andererseits geht es für Dr. Jiang um eine Haftstrafe, die bei einer 60-jährigen wohl auch das Ende ihrer beruflichen Tätigkeit bedeuten würde. Denn ist die Praxis ist dann erst einmal geschlossen...
13:15 Uhr, Dr. Hirsch kommt ohne Robe in den Saal und verteilt die schriftliche Ausfertigung der Ablehnungsbescheide an die Rechtsanwälte und den Staatsanwalt.
Drei neue Beweisanträge
Heute hat das Publikum über die Mittagszeit auch einen gewissen Schwund erlitten aber nicht in der Ausprägung wie an den vorherigen Prozesstagen mit den extrem langen Pausen. 13:30 Uhr, die Sitzung beginnt mit drei neuen Beweisanträgen durch Rechtsanwalt Willanzheimer:
1) Die leitende Ärztin des Hausarztverbandes aus Stuttgart soll als Sachverständige gehört werden. Während der Corona-Krise stellten Hausärzte in Baden-Württemberg keine Atteste aus, auch wenn dies medizinisch geboten war. Hausärzte, die Maskenatteste ausstellten, kamen auf eine sogenannte „Schwarze Liste“, daher lehnten viele Ärzte aus Angst ab Atteste auszustellen, auch wenn es notwendig war.
2) 2019 war es üblich Gesundheitszeugnisse ohne ärztliche, körperliche Untersuchung auszustellen. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Rechtsauffassung des OLG Celle (Beschluss vom 16.11.2022 AZ: 2Ss137/22):
Ohne körperliche Untersuchung kann kein Gesundheitszeugnis ausgestellt werden. (Ich denke, naja, 2019/2020 gab es selbst Krankmeldungen auf Zuruf besser gesagt Anruf - da die Ärzte nicht wollten, dass die Patienten die Praxis aufsuchen).
3) Verweist er auf ein Video der Bundesärztekammer, aus dem hervorgeht, dass ärztliche Fernbehandlungen nicht mehr unüblich sind. Das Protokoll hierüber soll in die Verhandlung eingeführt und verlesen werden. Telemedizin ist seit 2019 üblich.
Der Staatsanwalt tritt den Anträgen entgegen, sie seien ohne Beweiskraft für die Urteilsfindung. Rechtsanwalt Künnemann weist daraufhin, dass eine Bescheinigung mit Diagnose für die Beurteilung bei Versicherungen nicht ausreichend ist. Daher möchte er einen leitenden Mitarbeiter von der Versicherungsgesellschaft „Generali“ hierzu hören.
Rechtliche Entscheidungen des Bundesgerichtshofs nicht beachtet?
Dieser soll bestätigten, dass neben der Diagnose noch weitere Kriterien zur Beurteilung eines Leistungsfalls notwendig sind. Der Staatsanwalt tritt dem Beweisantrag entgegen.
Weiter weist Rechtsanwalt Künnemann auf rechtliche Entscheidungen des Bundesgerichtshof (BGH) hin und fordert, dass der § 278 in seiner alten Fassung verlesen wird.
Dem gemäß ist in diesem Verfahren ein Freispruch zu fordern. Behörden sind laut BHG alte Fassung des § 278 nur solche Stellen, die derartige Gesundheitszeugnisse verwenden.
Es ging in einer Entscheidung um die strafrechtliche Auslegung des Behördenbegriffs im Zusammenhang mit dem Apothekengesetz. Es ging um die Frage: Was ist eine Behörde? Schul- und Ordnungsbehörden erfüllen eben gerade nicht den Behördenbegriff, Sozialversicherungen fallen darunter.
Rechtsanwalt Künnemann weist daraufhin, dass BGH-Urteile zwingend zu beachten sind. Abweichungen von der Rechtsprechung des BGH ohne vorherige Ankündigung sind ein Revisionsgrund. Die Verteidigung fordert Freispruch.
Begehrtes Rechtsgespräch erneut verweigert
Rechtsanwalt Lausen beantragt ein Rechtsgespräch. Dr. Hirsch fragt den Staatsanwalt ob er dazu Stellung nehmen möchte - will er nicht.
Die Sitzung wird unterbrochen, die Kammer zieht sich zu einer 10-minütigen Beratung zurück. Beschluss: Der Antrag von Rechtsanwalt Künnemann wird abgelehnt. Das Beweisprogramm ist erledigt. Der BGH-Behördenbegriff ist der Kammer bekannt. Das von Rechtsanwalt Lausen beantragte Rechtsgespräch wird abgelehnt.
Die Beschlüsse und schriftliche Begründung werden an die Prozessbeteiligten verteilt. Die Verteidigung möchte neue Beweisanträge diskutieren, daher wird die Sitzung bis 14:15 Uhr unterbrochen.
Rechtsanwalt Lausen widerspricht dem Beschluss der Kammer. Er sieht einen inneren Widerspruch zwischen dem Behördenbegriff des BGH und der Weigerung der Kammer diesen gemäß der BGH Definition anzuerkennen.
Er sieht eine Überdehnung des Rechtsbegriffs und verweist auf eine Entscheidung des Amtsgerichts Stuttgart Bad Cannstadt, in welchem Oberstaatsanwalt Gremmelmaier eine Rolle spielte (so ganz habe ich das nicht verstanden…).
Kein Fall bekannt, in dem ein Attest zur Vorlage bei einer Behörde genutzt wurde
Es wurde bis dato in diesem Gerichtsverfahren kein einziger Fall dem Gericht vorgelegt in dem tatsächlich ein Attest zur Vorlage bei einer Behörde, nach dem Behördenbegriff des BGH, genutzt wurde.
Rechtsanwalt Lausen stellt die Frage, bei welchen Behörden nach Auffassung des Gerichts ein solches Attest mißbräuchlich vorgelegt wurde? Dr. Hirsch fragt den Staatsanwalt ob er hierzu Stellung nehmen möchte - will er nicht.
Die Sitzung wird unterbrochen, die Kammer zieht sich zur Beratung zurück. Beschluss: Der Beweisantrag von Rechtsanwalt Lausen auf ein Beratungsgespräch wird abgelehnt. Laut 12. Kleiner Strafkammer handelt es sich nur um eine „Kann“-Vorschrift, diese sei nicht verpflichtend.
Ranken um den nächsten Gerichtstermin
Rechtsanwalt Künnemann will nun doch ein Sachverständigengutachten von Dr. Kisielinski einholen und regt an den Verhandlungstermin 31. Januar 2024 ausfallen zu lassen.
Rechtsanwalt Lausen gibt an, er habe in der kommenden Woche drei Verhandlungstermine an unterschiedlichen Orten mit Reisetätigkeit zu absolvieren. Auch er möchte den Termin 31. Januar 2024 entfallen lassen und am 08. Februar 2024 die Verhandlung fortsetzen. Dr. Hirsch mahnt an, dass er dann am 08. Februar 2024 die Schlussvorträge hören möchte.
Rechtsanwalt Willanzheimer hat am 31. Januar 2024 auch keine Zeit, er ist in Prüfungsabnahmen involviert. Dr. Hirsch erklärt die Beweisaufnahme für abgeschlossen und fordert den Staatsanwalt auf sein Plädoyer zu halten.
Erstmals anwesender namenloser Staatsanwalt trägt Schlussplädoyer vor
Damit haben die Prozessbeobachter und auch offenbar die Rechtsanwälte nicht gerechnet. Der immer noch nicht namentlich benannte junge Staatsanwalt, der heute erstmalig als Vertreter der Staatsanwaltschaft Mannheim an der Verhandlung teilnimmt, trägt das Schlussplädoyer vor.
Im Wesentlichen eine Zusammenfassung der Anklageschrift bzw. des Urteils aus der ersten Instanz. Er sieht weiterhin 4.374 strafrelevante Fälle. Da sich die Angeklagte in der Berufungsverhandlung zur Sache nicht äußerte, kann ein Geständnis auch nicht strafmildernd gewertet werden.
Er bezeichnet Dr. Jiang als unbelehrbare Überzeugungstäterin und sieht daher eine Wiederholungsgefahr. (Ich denke mir, na hoffentlich ist sie Überzeugungstäterin, jeder Mensch sollte gemäß seiner Überzeugung handeln und nicht dagegen.)
In Bezug auf ihre Mitarbeiterin wirft er ihr anstiftendes Verhalten vor. Nur durch ihr Handeln sei ihre Mitarbeiterin in die missliche Lage gekommen, sich vor Gericht verantworten zu müssen (das Verfahren gegen sie wurde während des Berufungsverfahrens bekanntlich eingestellt).
Angeklagter wegen Maskenbefreiungsattesten „kriminelle Energie“ unterstellt
Er bescheinigt der Angeklagten eine besondere „kriminelle Energie“ und sieht in dem Ausstellen von Mund-Nasen-Schutz-Befreiungsattesten ein „lukratives Geschäftsmodell“.
(Meiner Erfahrung nach gibt es keine „kriminelle Energie“. Es gibt nur Energie die für das Interesse des einen oder eben gegen das Interesse des anderen eingesetzt werden kann. Gesetze und Rechtsvorschriften ändern sich, Energie ist wertfrei.
Wo er bei einer Gebühr von 5,- bis 7,- Euro ein lukratives Geschäftsmodell erkennt, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Ein lukratives Geschäftsmodell waren die straffreien Maskendeals der Bundestagsabgeordneten, die das über ihre Beraterkonstrukte „erwirtschaftete“ Geld behalten durften.)
Den Tatzeitraum unterteilt er in seiner Wertigkeit in zwei Abschnitte. Alle Taten bis zum 14. August 2020 sollen mit 100 Tagessätzen, die Taten bis 01.10. 2021 mit 120 Tagessätzen geahndet werden, dazu eine „kurze“ Freiheitsstrafe von 4 Monaten pro nachgewiesenem Fall (er meint vermutlich die 20 exemplarisch ausgewerteten Fälle).
4 Jahre Haft, 1 Jahr Berufsverbot und Einziehung von 28.110,21 Euro gefordert
So kommt er insgesamt auf eine Forderung von 4 Jahren Haft, 1 Jahr Berufsverbot und die Einziehung von 28.110,21 Euro (wobei er keine Scheu hat das Geschäftskonto bei der Sparda-Bank samt detaillierter IBAN-Nummer exakt zu benennen).
Außerdem sollen alle ausgestellten Atteste eingezogen werden. (Irgendwie habe ich den Teil im Mathematikunterricht verschlafen - ich kann die Aufrechnung nicht nachvollziehen.) Das eine Jahr Berufsverbot liegt ihm besonders am Herzen, da weitere Straftaten zu befürchten seien. Dr. Jiang ist schließlich Überzeugungstäterin.
(Auch dieser Forderung kann ich nicht folgen. Denn, wenn das Gericht seinem Antrag folgen würde, dann würde dies selbst bei einer Halbstrafe, also einer 2-jährigen Haftzeit, bedeuten, dass Dr. Jiang nicht als Ärztin tätig sein könnte. Insofern macht ein 1-jähriges Berufsverbot gar keinen Sinn. Oder hat er etwa die Vorstellung, dass sie als Ärztin in der Krankenabteilung der JVA tätig wird?)
Am Ende seines Plädoyers stellt er den Antrag: 4 Jahre Haftstrafe, plus Wertersatz, plus 1 Jahr Berufsverbot, plus Einzug der Maskenatteste.
Rechtsanwalt Willanzheimer kritisiert mehrer Punkte im Schlussplädoyer des Staatsanwalts ohne öffentlich ins Detail zu gehen. Dr. Hirsch setzt Rechtsanwalt Künnemann eine Frist zur schriftlichen Begründung seines Beweisantrags bis zum 25. Januar 2024, 18 Uhr. Den Verhandlungstermin 31. Januar 2024 möchte er beibehalten.
Schikane bei der Terminierung?
Rechtsanwalt Willanzheimer gibt an, er sei aufgrund der Abschlussprüfungen zeitlich gebunden und könne unmöglich sein Plädoyer bis zum 31. Januar 2024 vorbereiten. Rechtsanwalt Lausen verweist nochmals auf seine zahlreichen Verfahrenstermine mit Reisetätigkeit, auch er hat keine Zeit das Schlussplädoyer in adäquater Weise vorzubereiten.
Rechtsanwalt Willanzheimer beantragt eine gerichtliche Entscheidung. Er sieht eine Schikane in der Terminierung. Rechtsanwalt Lausen schließt sich dem an. Die Sitzung wird unterbrochen, die Kammer zieht sich zur Beratung zurück.
Jungem Staatsanwalt ein vorgefertigtes Plädoyer zum Verlesen in die Hand gedrückt?
Beschluss: Der 31. Januar 2024 fällt als Verhandlungstermin aus. Die Verhandlung wird am 08. Februar 2024, 09 Uhr mit den Schlussplädoyers der Rechtsanwälte fortgesetzt. Die heutige Verhandlung wird um 15:20 Uhr beendet.
Nach meinem persönlichen Eindruck wurde dem jungen Staatsanwalt ein vorgefertigtes Plädoyer zur Verlesung in die Hand gedrückt und Dr. Hirsch wusste davon. Es wirkte auf mich wie die Inszenierung eines Theaterstücks.
Dies war meine Wahrnehmung des neunten Prozesstages. Aufzeichnungen der weiteren Prozesstage folgen jeweils freitags und montags. Hier geht's zu Teil 10: www.de-fakt.de/bundesland/hessen/details/?tx_ttnews