War das Odenwälder Landratsamt zeitweilig eine Fälscherwerkstatt?
Strafverfahren gegen den ehemaligen Landrat des Odenwaldkreises Dietrich Kübler: Michelstädter Amtsrichter steht vor einer anspruchsvollen Detailarbeit – Urkundenveränderungen und LegendenbildungODENWALDKREIS / MICHELSTADT. - Elf Stunden lang mit relativ kurzen Pausen dauerte der fünfte Verhandlungstag im Verfahren gegen den früheren Odenwälder Landrat Dietrich Kübler (67, ÜWG), dem die Darmstädter Staatsanwaltschaft Untreue zum Nachteil des Odenwaldkreises vorwirft.
Er soll eine ihm nachbarschaftlich verbundene Werbeagentur im Rahmen eines mit EU-Geldern geförderten Ausschreibungsverfahren eines Standortmarketingprojekts im Jahr 2012 illegal bevorzugt haben.
Nach Auffliegen der unkorrekten Handlungen verweigerte die fördernde WI-Bank die Auszahlung von rund 70.000 Euro, weitere aufgelistete Schadenssummen erhöhen den Verlust auf knapp 100.00 Euro. Der Gesamtschaden für den Landkreis wird auf fast eine halbe Million Euro beziffert (FACT berichtete mehrfach, so auch unter: www.de-fakt.de/bundesland/hessen/odenwaldkreis/details/?tx_ttnews).
Elf Mitglieder des Kreisausschusses im Zeugenstand
Amtsrichter Helmut Schmied ist um seine Aufgabe nicht zu beneiden. Am Montag arbeitete er einen Beweisantrag der Kübler-Verteidigung ab, indem er elf damalige Mitglieder des Odenwälder Kreisausschusses und eine Mitarbeiterin des Landratsamts in den Zeugenstand rief.
Dass er eindeutige Schlüsse aus den umfangreichen Befragungen ziehen konnte, lässt sich nicht behaupten. Ebenso wenig, dass sich die Verteidigung mit dieser Befragung einen Gefallen getan hat.
Dennoch werden allmählich Konturen erkennbar. Es geht ein tiefer Riss durch die große Zeugenschar. Auch für zuvor uninformierte Zuhörer, die dem Prozess mit großem Interesse folgen, werden die selektiven und subjektiven Erinnerungen der Politiker und Mitarbeiter deutlich, nicht zuletzt durch akribisches Nachfragen des Vorsitzenden Richters.
„Zeugen der Verteidigung“ gegen „andere“ Zeugen
Nach fünf Verhandlungstagen, denen noch mindestens drei oder vier weitere folgen werden, kann der Beobachter zwischen „Zeugen der Verteidigung“ und weiteren Zeugen deutlich unterscheiden, die sich in der klaren Mehrheit befinden.
Das magere Erinnerungsvermögen der Befragten, auch wenn sich die Ereignisse vor fünf Jahren zutrugen, ist auch für ehrenamtliche Lokalpolitiker nicht nachvollziehbar. Manche stellen sich heute als Feierabendpolitiker dar, denen eine Erinnerung an drastische Ereignisse mit riesigem Presseecho nicht zumutbar ist. An Details, die ihnen wichtig waren, können sich viele aber in allen Einzelheiten erinnern. Dem Zuhörer drängen sich Eindrücke von „gelernten“ und „ungelernten“ Zeugen auf.
Drei Sitzungen von Bedeutung hinterfragt
Drei Sitzungen des Odenwälder Kreisausschusses (KA) lagen im Fokus der aktuellen Befragungen des Amtsrichters. Da ging es um eine Sitzung am 30. Januar 2012, in der die vom damaligen Landrat bevorzugte Agentur Lebensform GmbH aus Erbach ihr Angebot zum Standortmarketing präsentierte.
Wie Richter Helmut Schmied Schritt für Schritt recherchierte, wird heute vom Landratsamt eine Tischvorlage dem Protokoll zugerechnet, die es damals, nach Angaben der meisten Zeugen nie gegeben hatte. Sowohl die angebliche Tischvorlage für diese Sitzung als auch das entsprechende Protokoll wurden offenbar nachträglich inhaltlich stark verfälscht.
Fälschungen in Protokollen und Tischvorlagen
Gleiches gilt für die KA-Sitzung am 10. Februar 2012. Das Protokoll der Sitzung ist dilettantisch und spartanisch abgefasst, umfasst keineswegs die besprochenen Themen und ist dennoch wahrscheinlich nachträglich ebenfalls auf die passenden Inhalte getrimmt worden.
Ziel der Fälschungen: Es sollte nachträglich der Eindruck suggeriert werden, vom Führungspersonal sei korrekt und ausführlich über Bedenken des kreiseigenen Rechtsamts berichtet worden, das eindrücklich vor einer Beauftragung der vom Landrat bevorzugten Werbeagentur gewarnt hatte. Deren Dokumente werden in den „Tischvorlagen“ angeführt. Somit hätten die KA-ler im Besitz aller relevanten Informationen abgestimmt.
„Verwaltungsinterne Vorgänge, die zu Irritationen geführt hätten“
Von der dritten KA-Sitzung im August 2013 wurde vor allem berichtet, dass es eine Abreibung für den Ex-Landrat gab. Ihm wurde deutlich das Missfallen der Abgeordneten überbracht, dass über die zahlreichen Rechtsamts-Warnungen nicht berichtet wurde.
Er habe geantwortet, es handele sich um verwaltungsinterne Vorgänge, die nur zu Irritationen geführt hätten (siehe auch FACT-Beitrag unter: www.de-fakt.de/bundesland/hessen/odenwaldkreis/details/?tx_ttnews).
Schriftstücke widerlegen Aussagen des Hauptabteilungsleiters
Die Angaben einiger Zeugen und die Aussagen des verantwortlichen Hauptabteilungsleiters Oliver Kumpf, auch als rechte Hand des Landrats bezeichnet, werden nun ausgerechnet durch aufgefundene Schriftstücke der Protagonisten ad absurdum geführt.
So hat der Hauptabteilungsleiter Kumpf während seiner Aussage vor dem Akteneinsichtsausschuss am 15. Januar 2014 eingeräumt, sein Tischvorlagen-Gutachten habe er erst nach der Sitzung vom 10.02.2012 verfasst, nachdem er mehrfach gefragt worden sei.
Eindeutig eine Irreführung. Zudem hatte der Ex-Landrat laut dem offiziellen Protokoll der Kreistagssitzung am 24. Februar 2014 schon ausgeführt, dass der Kreisausschuss die Gutachten nicht schriftlich erhalten hatte.
Vorwärtsverteidigung mit fraglichen Behauptungen
Als Vorwärtsverteidigung des Hauptabteilungsleiters (HAL) ist eine E-Mail vom 16. Januar 2014 zu werten, die weit nach den Ereignissen der Auftragsvergabe am 10. Februar 2012 an die KA-Mitglieder versandt wurde. Mit der Mail wurden reichlich spät die insgesamt vier vernichtenden Gutachten des Rechtsamts aus Ende 2011 und Beginn 2012 verteilt.
Es folgt der Hinweis, nun hätten die Mitglieder die Texte auch schriftlich, allerdings habe der HAL ja vor der damaligen Entscheidungssitzung im Februar 2012 die Inhalte alle mündlich vorgetragen. Was die Grünen-Abgeordnete Christa Weihrauch nach ihren Angaben zur prompten Antwort veranlasste, hier werde wohl an einer „Legendenbildung“ gearbeitet. Der Kreisausschuss habe erstmals anderthalb Jahre nach seiner Entscheidung von den fraglichen Gutachten erfahren.
Auch der Ex-Landrat veranlasste nachträgliche Protokollveränderung
Über die vom Ex-Landrat vorgenommene nachträgliche Veränderung eines Protokolls der Steuerungsgruppe der Bewerberauswahl wurde an dieser Stelle bereits berichtet (siehe FACT-Bericht unter: www.de-fakt.de/bundesland/hessen/odenwaldkreis/details/?tx_ttnews). Gelegentlich konnte Richter Helmut Schmied nur noch den Kopf schütteln, angesichts einiger hilfloser Aussagen und des teilweise desolaten Erinnerungsvermögens einiger Zeugen.
Und er explodierte auch: „Ich begreife nicht, dass niemand die vagen Aussagen des HAL Kumpf hinterfragt hat. Das geht nicht in meinen Kopf“, sagte er.
Trotz Warnungen des Rechtsamtes zur Zustimmung geraten
Schmied verwies darauf, dass ein Nichtjurist seine unmaßgebliche Meinung über die Hinweise des Rechtsamts gestellt hatte und die KA-Mitglieder in eine nach heutigen Erkenntnissen untragbare Situation gebracht hatte, indem er ihnen eine Zustimmung zur Werbeagentur angeraten hatte, die dem Kreis diese enormen Schadenssummen eingebracht hat.
Staatsanwältin Brigitte Lehmann hielt sich auf Anfrage wegen der angekündigten Ermittlung gegen eine zweite in die Affäre stark verwickelte Person aktuell noch bedeckt.
Von Verhandlungen „bis Weihnachten“ sprach sarkastisch der Amtsrichter. Doch zunächst wurden Verhandlungen für den 12. September und 4. Oktober anberaumt, Zwei Kurztermine jeweils um 9 Uhr.