Wahrnehmungsverschiebung
SERIE, Teil 11: Monika Wagner beobachtete das Berufungsverfahren vom 07. November 2023 bis 20. Februar 2024 vor dem Landgericht Mannheim gegen eine Weinheimer Ärztin und deren Praxisangestellte wegen des Verdachts auf Ausstellung unrichtiger GesundheitszeugnisseTag 11 der Berufungsverhandlung, 20. Februar 2024 – Urteilsverkündung –
Teil 1 und folgende sind nachzulesen unter: www.de-fakt.de/deutschland/details/?tx_ttnews
Der heutige Beginn der Verhandlung wurde von ursprünglich 09 Uhr auf 12 Uhr verschoben. Grund: Zuvor wurde der große Saal für eine Verhandlung gegen 4 Männer wegen Verdacht auf gemeinschaftlichen Totschlag benötigt.
Obwohl ich um 11:30 Uhr vor Ort bin, sind bereits alle Schließfächer belegt. Die Dame, die das letzte Schließfach ergattern konnte, bietet mir an meine kleine Tasche miteinzuschließen.
Das Foyer ist bereits voll mit wartenden Prozessbeobachtern, der Security- Check hat zu meiner Überraschung schon begonnen, man will wohl pünktlich „high noon“ beginnen.
Der Sicherheitscheck ist der gleiche wie an Tag 10. Meine Weste, mein Schreibzeug und Brille wandern in die Box, zur Durchleuchtung. Metalldetektor. Abtasten. Der Saal ist bereits zu 2/3 gefüllt, so dass ich auf einer der hinteren Sitzreihen Platz nehmen muss.
Die ARD filmt im Gerichtssaal
Neben der Angeklagten sind heute ihre Wahlverteidiger Sven Lausen und Holger Willanzheimer anwesend, der dritte Wahlverteidiger RA Künnemann fehlt. Die Staatsanwaltschaft wird erneut von einem bislang noch nicht in Erscheinung getretenen Staatsanwalt vertreten, sein Name wird nicht genannt.
Ein Kameramann der ARD ist im Saal. Er filmt die Angeklagte und ihre Verteidiger, nach Rücksprache, sowie den Aktenberg mittig platziert unter dem Landeswappen auf dem Bord hinter der Richterbank. Einige Zuschauer sprechen ihn an, sie wollen nicht gefilmt werden.
Die Zuschauerreihen sind fast komplett gefüllt. An der Seite stehen zeitweise acht Justizbeamte. Die erste Reihe ist wieder für die Presse reserviert, hier sitzen sieben Personen, darunter eine Journalistin der ARD.
Pünktlich um 12 Uhr beginnt die Verhandlung zur Urteilsverkündung
Die Verhandlung beginnt pünktlich. Der Kameramann macht ein Foto von der 12. Kleinen Strafkammer und verläßt danach den Saal begleitet von der Mehrheit der Justizbeamten. Dr. Hirsch bittet die Anwesenden zur Urteilsverkündung aufzustehen.
Das Urteil lautet: 2 Jahre Haft auf 3 Jahre Bewährungszeit, das Berufsverbot wird aufgehoben. Außerdem sind 18.000 Euro Geldstrafe à 500 Euro pro Monat an den „Bezirksverein für Soziale Rechtspflege“ in Mannheim zu zahlen. 1/3 der entstandenen Kosten trägt die Staatskasse.
Der durch das ungerechtfertigte Berufsverbot aus der ersten Instanz (Urteil des Amtsgericht Weinheim) entstandene Schaden geht zu Lasten der Staatskasse. Wir dürfen uns setzen.
Der Vorsitzende Richter Dr. Christian Hirsch erläutert das Urteil:
Im Sachverhalt folgt er weitgehend der Anklageschrift. Anfang 2020 trat COVID auf, ab März wurde die epidemische Lage festgestellt. Es folgten wechselnde Präventionsmaßnahmen von Quarantäne, Schulschließungen, Abstandsgeboten bis Maskenpflicht. Alle Maßnahmen lösten große Diskussionen innerhalb der Bevölkerung aus. Die Experten waren sich nicht einig.
Die Angeklagte stand den Maßnahmen von Anfang an sehr kritisch gegenüber, insbesondere dem Tragen von Masken im öffentlichen Bereich, wie auch der Nutzung von Schals zur Abwehr der Pandemieerreger.
Sie äußerte sich mehrfach öffentlich gegen das Tragen von Masken, diese seien generell gesundheitsschädlich und förderten die Entwicklung von Infekten und psychologischen Fehlentwicklungen, insbesondere bei Kindern.
„Atteste wurden >auf Zuruf< ausgestellt“
Die Angeklagte zeigte eine generelle Ablehnungshaltung gegenüber der Anordnung einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, dabei war es ihr (aus Sicht der Kammer) egal ob die Patienten zur Gruppe gehörten für die eine Ausnahmeregelung vorgesehen war.
Ihre Haltung fand durch die sozialen Medien eine schnelle Verbreitung. Atteste wurden „auf Zuruf“ ausgestellt, dabei war ihr das Krankheitsbild Zitat “…völlig Wurst".
Aufgrund des Gebrauchs einer solchen umgangssprachlichen Redewendung in einer Urteilsbegründung geht ein Raunen durch den Saal. Der Vorsitzende Richter mahnt zur Ruhe und droht mit einer partiellen Saalräumung.
Kammer folgte Ausführungen der Staatsanwaltschaft und den kriminalpolizeilichen Ermittlungen
Er fährt fort, es kam zu keiner körperlichen Untersuchung bei einer Vielzahl der Fälle. Das Attest zeigte inhaltlich die immer gleiche Formulierung „Hiermit bestätige ich, dass oben genannte Person aus medizinischen Gründen keinen Mund-Nasen-Schutz tragen kann. Das Tragen einer Mund-Nasen-Abdeckung ist aus medizinischer Sicht kontraindiziert."
Die Kammer folgte diesbezüglich den Ausführungen der Staatsanwaltschaft und den kriminalpolizeilichen Ermittlungen. Die Kammer folgt dem Modus Operandi wie er beim Amtsgericht Weinheim zugrunde gelegt wurde.
Gericht glaubt nicht an das laienhafte des Tuns
Die Aussage, dass kein Maskenattest ausgestellt wurde, wenn der Patient eine Maske tragen konnte, wird von der Kammer angezweifelt. Ebenso glaubt die Kammer nicht an das laienhafte ihres Tuns, sie hätte keine Gesundheitszeugnisse im rechtlichen Sinne ausgestellt.
Ihre Einstellung zu den Infektionsmaßnahmen wurden beim Amtsgericht Weinheim geklärt. In Rundbriefen informierte sie über das Pandemiegeschehen und rief zur Teilnahme an Demonstrationen auf. Die Atteste wurden innerhalb weniger Stunden ausgestellt.
Was die Anzahl der Fälle betrifft folgte man den Listen der Polizei. Die Kammer sieht hier fundiert, konkrete Fälle basierend auf der Konto-Auswertung.
„Gestellte Beweisanträge waren ohne Bedeutung zur rechtlichen Würdigung der Tat“
Die Kammer hat keine Zweifel an der Anzahl, im Gegenteil, es dürften vermutlich viel mehr als die festgestellten Fälle im Umlauf sein. Basis dieser Vermutung ist der ausgewertete Email-Verkehr, zu dem es oftmals keine Patientenakten mit Untersuchungsbefunden gab.
Die von der Verteidigung gestellten Beweisanträge waren ohne Bedeutung zur rechtlichen Würdigung der Tat. Aus Sicht der Kammer gab es 4783 interne Ausfertigungen (wo diese Zahl jetzt herkommt weiß ich auch nicht, angeklagt waren 4.374 Fälle). Ob die Bescheinigungen als PDF verschickt oder in Papierform ausgestellt wurden ist ohne Bedeutung.
„Mehrheitlich die Tatbestandsmerkmale erfüllt“
Die Kammer sieht tatmehrheitlich die Tatbestandsmerkmale erfüllt. Laut Kammer handelt es sich um Gesundheitszeugnisse nach § 278 StGB alte Fassung.
Diagnosen waren nicht erforderlich. Die schlichten Formulierungen der Angeklagten fallen unter den Begriff des Gesundheitszeugnisses, denn es wird ein Gesundheitszustand beschrieben.
Die von der Verteidigung angeführten Urteile von Oberlandesgerichten sehen das anders, jedoch handelt es sich, aus Sicht der Kammer, nicht um vergleichbare Fälle.
Die Gesundheitszeugnisse waren unrichtig. Eine körperliche Untersuchung fand nicht statt, dies war aus den Zeugnissen nicht ersichtlich. In einigen Fällen war eine Untersuchung nicht erforderlich, aber hierbei handelte es sich um wenige, eng gefasste, Ausnahmefälle. Für eine Dauerbefreiung muss der Patient genau untersucht werden, daher waren die Gesundheitszeugnisse unrichtig.
„Zeugnisse waren bestimmt zur Vorlage bei einer Behörde“
Die Zeugnisse waren bestimmt zur Vorlage bei einer Behörde. Die Kammer stimmt der engen Auffassung der Verteidigung nicht zu, auch Polizeidienste, Ordnungsämter, etc. fallen unter den Behördenbegriff - sie mussten die Gesundheitszeugnisse überprüfen.
Atteste wurden auch bei Gericht vorgelegt, z.B. bei Bußgeld- oder Verwaltungsverfahren. In subjektiver Hinsicht hat die Angeklagte gewußt was sie macht, sie hat gegen besseres Wissen gehandelt. Die alte Fassung des Gesetzes sieht einen Strafrahmen von 2 Jahren vor.
Motiv und Tun der Angeklagten wurden im Kern vor dem Amtsgericht Weinheim eingeräumt. Die Angeklagte hat keine Vorstrafen. Die Angeklagte hat keine berufsrechtlichen Verfahren. Allerdings werden berufsrechtliche Verfahren wohl noch nachkommen.
Schallendes Gelächter
Das vorläufige Berufsverbot war unzulässig. Die Taten wurden alle während der Pandemie begangen. Dr. Hirsch geht davon aus, dass es eine solche „Pandemische Lage“ nicht mehr geben wird, worauf im Saal schallendes Gelächter ausbricht, welches er irritiert zur Kenntnis nimmt.
Die Angeklagte ist der Ladung zur Beschuldigtenvernehmung nicht gefolgt, sie hat weitere Atteste ausgestellt. Das Gericht hat den Tatzeitraum bis zur Beschuldigtenvernehmung mit je 6 Monaten, die Fälle danach mit je 7 Monaten Freiheitsstrafe gewertet.
Insgesamt wurden die Taten zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren zusammengezogen, diese wird zur Bewährung ausgesetzt.
Verurteilung soll Warnung an die Angeklagte sein
Die Verurteilung soll eine Warnung an die Angeklagte sein. Sie ist familiär eingebunden. Sie hat das Ausstellen von Mund-Nasen-Schutz-Befreiungen mit dem Zeitpunkt der Hausdurchsuchung eingestellt. Die Taten liegen schon einige Zeit zurück.
Die vom Amtsgericht angeordnete Einziehung von 28.110,21 Euro und die Verhängung eines Berufsverbots nach so langer Zeit sieht das Gericht nicht mehr als verhältnismäßig. Für die Zeit des Berufsverbots nach dem Urteil aus der ersten Instanz vom Amtsgericht Weinheim wird die Angeklagte entschädigt.
An die Verteidiger gewandt erklärt der Vorsitzende Richter, eine mündliche Urteilsbegründung sei nicht der Ort der Selbstdarstellung des Richters, genauso wenig wie die mündliche Verhandlung der Ort der Selbstdarstellung der Verteidiger sei.
Verteidigung Prozessverschleppung vorgeworfen
Dr. Hirsch wirft der Verteidigung Prozessverschleppung und die bewusste Schaffung von Revisionsgründen vor. Es folgt eine Belehrung der Angeklagten zur Revision, hierfür habe sie eine Woche Zeit. Die Begründung der Revision müsste hingegen durch ihre Verteidiger binnen 4 Wochen erfolgen.
Ferner belehrt Dr. Hirsch die Angeklagte über die Bewährungsmaßnahmen und das Strafentschädigungsgesetz. Die Staatskasse übernimmt 1/3 der Verfahrenskosten. Dr. Hirsch schließt um 12:35 Uhr die Verhandlung.
„Urteil vorgetragen, welches er nicht selbst geschrieben hat?“
Mein subjektiver Eindruck war Dr. Hirsch hat hier ein Urteil vorgetragen, welches er nicht selbst geschrieben hat und hinter dem er auch persönlich nicht steht. Er wirkte zerfahren, unkonzentriert, verhaspelte sich mehrmals. Er wirkte alles andere als souverän.
Ich eile hinaus zu den Schließfächern. Die Frau, die freundlicherweise meine kleine Tasche mit eingeschlossen hat, kommt mir schon entgegen.
Froh, dass die drohende Haftstrafe abgewendet wurde
Vor dem Gericht komme ich mit einigen Zuschauern ins Gespräch. Die Prozessbeobachter finden das Urteil nicht gerecht, sind aber froh, dass die drohende Haftstrafe abgewendet wurde.
Im Gerichtsgebäude finden seitens der ARD Interviews mit Prozessbeobachtern und der Gerichtssprecherin des Landgerichts Mannheim (einer Staatsanwältin die ebenfalls während der Verhandlung nicht in Erscheinung trat) statt. Ich halte mich fern. Das ARD-Team verlässt unter dem Schutzvon 6 Justizbeamten das Gerichtsgebäude - was für eine Show!
Dies war meine Wahrnehmung des elften Prozesstages, dem Tag der Urteilsverkündung. Abschließend folgt zum Wochenende eine Nachbetrachtung der Berufungsverhandlung vor dem Mannheimer Landgericht. Hier geht's zu Teil 12: www.de-fakt.de/bundesland/hessen/details/?tx_ttnews