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Wo Lyrik auf Wortwitz trifft: Ein MĂ€rchen in einer Minute

Dr. Michael HĂŒttenberger im Garten seiner Wohnung in Michelstadt. Foto: Manfred Giebenhain

Das Cover des MĂ€rchenbuches. Foto: HĂŒ

Milena Breiter in ihrem Atelier in Bremen. Foto: Cedric MĂŒller

Dr. Michael HĂŒttenbergers MĂ€rchenbuch der etwas anderen Art

MICHELSTADT. - Langweilige AnfĂ€nge im Stil eines „Es war einmal 
“ sucht man bei Dr. Michael HĂŒttenberger vergebens. Der ehemalige DarmstĂ€dter Schulleiter lebt als freier Autor und Journalist seit 2022 in Michelstadt.

Neben seinem politisch-publizistischen Handwerk versteht er sich auch darauf, alles, was ihm ĂŒber den Weg lĂ€uft, genial zu verdichten.

Warum also, so dachte er sich wohl, nicht mal versuchen, MĂ€rchen unter Zuhilfenahme der Reimtechnik derart zu verkĂŒrzen, dass sie in einer Minute „erzĂ€hlt” sind?

Der Versuch ist hervorragend gelungen, anders lĂ€sst es sich nicht sagen beim Blick in HĂŒttenbergers „Grimm‘sche MĂ€rchenverdichtungen”, die im August als erweiterte Neuauflage seines seit 2016 vergriffenen Bestsellers „Komm mit, sagte der Esel“ erschienen sind.

Dieses Mal als hochwertige Hardcover-Version und ansprechend farbig und witzig neu illustriert, was die Lust schon weckt, bevor der erste mÀrchenhafte Reim gelesen ist.

Die optischen MÀrchenerzÀhlungen stammen von Milena Breiter, die mit dem Skizzenbuch als ihrem stÀndigen Begleiter nicht nur in Bremen unterwegs ist.

Anschließend geht die Illustratorin stets mit Tusche, Aquarell und Bleistift ans Werk, was ihr im vorliegenden Fall besonders gut gelungen ist.

Man betrachte sich nur mal ihre „Musikantenpyramide“, die sie dem MĂ€rchen gewidmet hat, das sich in ihrer Wahlheimat abgespielt haben soll.

AufgerÀumter, aber nicht minder kunterbunt und augenzwinkernd, hat sie auf den Umschlag des Buchs eine weitere Tierpyramide platziert. Genaueres Hinschauen lohnt, weil sie gleich mehrere MÀrchen in sich vereint.

Es stimmt. Dargeboten werden in diesem hochwertig ausgestatteten Buch nur MĂ€rchen, die jeder schon kennt – oder kennen sollte. Doch dies setzt Michael HĂŒttenberger geradezu voraus.

Ohne zu wissen, dass das wilde Durcheinander aus KrÀhen, Bellen und Miauen der Bremer Stadtmusikanten einzig dem Zweck dient, den rÀuberischen Hausbewohnern Angst einzujagen, um sie zu vertrieben, geht es nicht.

Ein GebĂ€rden, das man mit den vier Worten „Musikantenpyramide sorgt fĂŒr RĂ€uberzwangsabschiede“ nicht hĂ€tte kĂŒrzer und prĂ€ziser auf den Punkt bringen können. 

Diese prĂ€zise KĂŒrze zeichnet auch die MĂ€rchengedichte als solche aus, allesamt mĂŒssen sie mit elf Zweizeilern auskommen. Dabei kommt der finalen Strophe jeweils eine ganz besondere Bedeutung zu – ganz im Sinne von: Die Moral von der Geschicht‘.

Bei den Bremer Stadtmusikanten liest sich das gute Ende so: „RĂ€uber nun final verjagt, Rentner bleiben, Haus behagt.“ Aber HĂŒttenberger setzt noch eins drauf: „Alles gut!? Jetzt fehlt halt nur – Bremen die Musikkultur“, was exemplarisch fĂŒr sein satirisches Augenzwinkern steht, was den Charme aller 26 MĂ€rchenverdichtungen ausmachen.

Der Autor weiß, dass es den meisten seiner Leser*innen ebenso oder wenigstens Ă€hnlich ergangen sein wird wie ihm. „MĂ€rchen haben mich schon immer beschĂ€ftigt, ob in der eigenen Kindheit, als Vater von zwei Kindern oder Lehrer in der Schule“, sagt er in der Gewissheit, Inhalte und Botschaften voraussetzen zu können.

In seiner Kurzbiografie am Buchende erwĂ€hnt er eine Nenntante, „die ihm und seinen Schwestern gefĂŒhlt jeden Tag ein MĂ€rchen vorlas.“ 

Waren es, wie er weiter schreibt, die Tricks des tapferen Schneiderleins, die ihm zu billig erschienen, oder die Existenz eines zweiten, anderen Wolfs in RotkĂ€ppchen, die sein Glauben an die GrundsĂ€tzlichkeit mĂ€rchenhafter Happy Ends erschĂŒtterte?

Der Reiz liege darin, „ein bekanntes MĂ€rchen in einer Minute wiederzugeben“, sagt HĂŒttenberger. Sein Anspruch, komplizierte Handlungen mit wenigen Worten zusammenzufassen, liest sich so: „Stroh zu Gold zu spinnen, ist metaphorisch betrachtet, das Ziel meines Schreibens.“ 

Im Vorwort seiner MĂ€rchenverdichtungen liefert er einen Vorgeschmack und beschreibt gereimt, was man erwarten darf: „Eins und drei, vier, fĂŒnf, sechs, sieben, MĂ€rchen sind hier aufgeschrieben. Alle Wunder, Katastrophen, neu gefasst in kurze Strophen. Elf, mit je zwei Versen drin: kondensierter MĂ€rchensinn.“

Als Germanist versteht Michael HĂŒttenberger sich geschickt darauf, seine Leser*innen kurzweilig bei Laune zu halten und selbst MĂ€rchen einzufangen, die den Drang besitzen, sich nicht ohne Weiteres mit 22 Zeilen begnĂŒgen zu wollen.

Beispiel „Frau Holle“: Nach acht Strophen „regnets Gold auf MĂ€dchen nieder“, Goldmaries faule Schwester ist noch nicht einmal beim Namen genannt worden, die Geschichte also lĂ€ngst noch nicht am Ende angekommen und es stehen nur noch drei Zweizeiler zur VerfĂŒgung.

Kann man das dichterisch lösen? Michael HĂŒttenberger kann es. Mit den Schlussversen „Doch weil schĂŒttelunbegabt, hat sie ziemlich Pech gehabt“ packt er alles, was menschenmöglich ist, in seine Verdichtung hinein. 

Der Autor gibt auch preis, was ihn in den Jahren seines Aufenthalts und literarischen Schaffens in Ostfriesland umgetrieben hat, denn dort sind die ersten MĂ€rchenverdichtungen entstanden.

Weil in Mundart (was an der KĂŒste „PlattdĂŒĂŒtsch“ heißt) geschrieben, tut sich der in Mittelgebirgen ansĂ€ssige Leser mit der Wiedergabe des „Von dem Fischer un siner Frau“ allerdings etwas schwer. Wohl dem, der beim mehrmaligen Lesen ohne Wörterbuch auskommt.

Bekanntlich fĂ€ngt alles mit „Huus mut her, Pisspott macht krank“ an, was sich so steigern lĂ€sst: „Huus, Schloss, König, Kaiserin, ok noch Pabst kem her in’d Sinn“. Wohin dieses gefĂŒhrt hat, versteht jeder, wenn auch nicht jedes Wort: „as he wĂŒnskt: ,Mak se to Gott!’. Fischers satten weer in’d Pott.“ 

Wie eine Geschichte von allzu viel Gier anders enden kann, erzĂ€hlt der Autor in „Tischlein deck dich 
“ und dem vermeintlichen Goldesel. Schaden und SchĂ€dling erkannt heißt es am Ende: „Beim Versöhnungsfest sogleich – isst man frisches Ziegenfleisch.

Und wer von all den Helden- und Missetaten nicht genug abbekommen hat, darf sich auf die Seiten 58 und 59 freuen (aber vorher bitte immer der Reihe nach!): In HĂŒttenbergers Verdichtung der Verdichtungen „Wolfsröschen und das rote Schneiderwittchen“ reichen bereits wenige Stichworte, die – eng verwoben – eine MĂ€rchenerinnerung nach der anderen in Bewegung setzen können.

Mit dieser anarchisch anmutenden Zusammenfassung und Neuinterpretation stellt der Autor unter Beweis, dass er sich auch selbst aufs MÀrchenerzÀhlen versteht.

Und darauf, pointiert alles infrage zu stellen: „Frösche an die WĂ€nde werfen, BrĂŒder Grimm gings auf die Nerven. Haben nie davon berichtet. Deshalb habe ichs gedichtet.“

„Komm mit, sagte der Esel” ist im Verlag Otto Heinevetter (Hamburg) erschienen und unter der ISBN-Nummer 978-3-87474-361-7 gelistet. In der Hardcover-Ausgabe werden – in lyrisch-verdichteter Form und mit farbigen Illustrationen versehen – 27 MĂ€rchen auf 64 Seiten vorgestellt.

Der Verkaufspreis betrĂ€gt 24,90 Euro. Jede Menge Lesungen befinden sich in Vorbereitung. Wann und wo sie stattfinden und noch viel mehr ĂŒber Buch, Autor und Illustratorin findet man unter: www.komm-mit-sagte-der-esel.com.